Konzertbericht: Pornophonique auf dem Waldeck Freakquenz Festival am 20.08.2022
Genau ein Jahr nach einem verhängnisvollen Konzert bin ich wieder unterwegs, um eine meiner absoluten Lieblingsbands live zu sehen. Der Unterschied zu damals: Ich bin jetzt Teil der Crew. Und überhaupt ist jetzt alles anders.
Haargenau ein Jahr ist es her, dass ich den langen Weg nach Südhessen auf mich nahm, um eine meiner Lieblingsbands zum zweiten Mal live zu sehen. Wenn mir eine Band gefällt, also so richtig, dann bin ich immer sehr committed, sprich: übermäßig begeistert!, und nehme dementsprechend viel Aufwand auf mich, um in den Genuss ihrer Liveshows zu kommen (ich spare heute schon Geld an für den Fall, dass in ferner Zukunft die Bondage Fairies eine Tour durch Deutschland spielen werden; und was auch immer ich zu dem Zeitpunkt beruflich oder fortbildungstechnisch machen, wo auch immer ich in dem Moment wohnen werde – ich werde bei jedem einzelnen Konzert in der ersten Reihe stehen!). Jedenfalls war ich dann ja damals da, in Südhessen, auf diesem Sportplatz mit dem Sportler*innenheim, am 21. August 2021, und war glücklich über das zweite Mal, dass ich Pornophonique endlich wieder live sehen konnte. Den ganzen Blogbeitrag dazu gibt es hier zum Nachlesen. Warum erwähne ich das hier, wo es in diesem Beitrag doch um ein Konzert gehen soll, welches gerade erst stattgefunden hat? Weil sich an dieser Stelle alles verzahnt, Gegenwart und Vergangenheit ineinandergreifen, und weil seither in meinem Leben einfach mal alles durcheinandergewirbelt wurde.
Die Kurzfassung von damals zur Erinnerung: Ich fuhr einmal quer durch Deutschland zu dem Konzert, und dort unterhielt ich mich zum ersten Mal längere Zeit mit Kai (dem Sänger und Gitarristen der Band) und wir verstanden uns gut, und dann unterhielt ich mich zum ersten Mal längere Zeit mit Heiko (dem Merchverkäufer-Schrägstrich-Roadie-Schrägstrich-Fahrer der Band) und wir verstanden uns gut, und dann unterhielt ich mich zum ersten Mal ever seeeeehr lange Zeit mit Felix (dem Gameboyisten der Band) und wir verstanden uns sehr gut und wurden in den folgenden Wochen sehr gute Freunde und sind es bis heute. Dies alles geschah an jenem einen Abend.
Was seitdem noch geschah: Ich fühlte mich bei meinen neuen Freunden so wohl und willkommen und akzeptiert, dass ich irgendwann beschloss, mehr oder weniger dauerhaft nach Darmstadt zu ziehen und dort im Auto zu leben, denn ich brauchte sowieso eine neue Homebase für mein Auto. Wie es ist, allgemein mit festem Standort im Auto zu wohnen, und im Besonderen in Darmstadt, habe ich hier in diesem Blogbeitrag ausgeführt. Aber auch vor meinem Umzug war ich jeden Monat mindestens einmal dort, um Felix zu besuchen, und jedes Mal nutzte ich auch die Gelegenheit, um Heiko zu sehen, und irgendwie sahen wir uns dadurch echt oft (zumindest für meine Verhältnisse; ich bin ja meistens so menschenscheu) und wir unternahmen zu zweit ziemlich viel und freundeten uns im Laufe der Zeit ebenfalls gut an. Heiko gewährte mir in Darmstadt jederzeit Obdach, eine gemütliche Couch im Warmen und Pizza. Wir redeten in seiner Bude lange Winternächte durch, bis ich auf der Couch einpennte, machten Filmabende mit Pizza, streiften tagsüber stundenlang gemeinsam durch die Stadt, bestellten noch mehr Pizza, kochten auch mal zusammen, gingen zusammen zu einer Friedensdemo, tranken auf seinem Balkon ein recht seltsames Eisteemixgetränk namens 4Bros (weil wir halt gute Bros waren, is klar, nech?) und feierten uns selbst als die größten Pornophonique-Fans, die es jemals gab und geben wird, und nannten uns Pornophanatiques. Im Laufe der Monate verbrachte ich, wenn ich in Darmstadt war, sogar mehr Zeit mit Heiko als mit Felix. Dabei entdeckten wir immer mehr Gemeinsamkeiten: Heiko hat seine Berufsausbildung bei der Telekom absolviert, genau wie ich. Wir sind beide Nerds und lieben alte Computerspiele. Wir lernen beide Schwedisch. Wir sind beide kreativ und dachten uns damals in Pre-Smartphone-Zeiten Blödsinn aus, wenn wir eine Videokamera in die Finger bekamen. Wir sind beide wandelnde Musikbibliotheken und brennen für Musik. Er kannte sogar die Bondage Fairies, lange bevor ich sie kannte – ein nicht unerheblicher Pluspunkt auf der Sympathieskala! Wir sind beide gerne unterwegs auf Reisen und haben schon viel von der Welt gesehen. Wir sind beide zu freakig, um in irgendeine Mainstreamnorm zu passen. Wir waren beide Single. Und jeder von uns beiden war irgendwie mehr oder weniger insgeheim der Überzeugung, aufgrund all dieser doch recht speziellen Eigenschaften niemals wieder einen passenden Partner zu finden. Ihr ahnt schon, worauf es hinauslief, stimmt‘s?
Prolepse auf jetzt: Das Jahr ist 2022. Der Tag ist der 20. August. Mein Leben, so wie es damals vor einem Jahr war, ist Vergangenheit und längst Geschichte. Fast alles hat sich grundlegend geändert. Heute ist Samstag. Ich bin seit genau fünf Wochen nicht mehr Single, sondern frisch verliebt und glücklich in einer brandneuen Beziehung, die für beide Seiten ziemlich unvorhergesehen und überraschend kam – auch wenn sich meine Beschreibung der letzten zwölf Monate im Nachhinein so liest, als wäre doch damals alles schon ganz eindeutig gewesen. Nun ja, aber nicht für Heiko und mich. Fast ein Jahr lang waren wir zwei platonische Bros. Aber direkt nach dem letzten Pornophonique-Gig, beim Traffic Jam Open Air am 16. Juli dieses Jahres, hatte es dann noch in der selben Nacht plötzlich heftig zwischen uns gefunkt. Meine Welt ist jetzt also rosa. Ich wohne dauerhaft in Darmstadt. Momentan reise ich deshalb auch nicht mehr. Ich habe mich vor Ort an der Hochschule immatrikuliert und werde hier im Herbst ein Informatikstudium beginnen. Und: Ich habe jetzt Zugang zu einer richtig echten Wohnung, so mit Dusche, Heizung, Bett und vor allem einer vollausgestatteten Küche! Ausgiebig zu kochen ist nämlich das einzige, dass ich beim Vanlife so richtig vermisse. Das klingt alles fast so, als sei ich ziemlich langweilig geworden. Aber so wie es ist, gefällt es mir momentan sehr gut und genau so brauche ich das. Diesen Halt, Geborgenheit, Liebe, Nähe. Das alles fehlte mir in den letzten Monaten sehr. Ich bin sehr dankbar dafür, wie sich alles entwickelt hat. Und all das nur, weil ich letztes Jahr zu einem Konzert meiner Lieblingsband gefahren bin. Und damit kann ich nun elegant einen Bogen schlagen! Denn heute, am Samstag, steht das nächste Konzert an. Für mich wird es anders sein als die Konzerte zuvor. Ich darf im Bandmobil mitfahren! Dieser Umstand ist allerdings leider einer blöden Begebenheit geschuldet, denn am Vortag zog sich der Tontechniker der Band, Dino, eine Verletzung zu und kann deshalb heute nicht mitkommen und Nippel drehen (das ist der Fachterminus für Soundmischen). Im Auto ist deshalb ein Platz frei, den ich nun freundlicherweise belegen darf.
Um 14 Uhr kommen Heiko und ich also mit dem Auto beim Pornoproberaum vorgefahren, vor dem die beiden Pornoboys schon warten. Gemeinsam schleppen wir das Equipment aus dem Proberaum auf die Straße und verstauen alles im Kofferraum. Dabei müssen wir uns an einer Horde Kerle vorbeischlängeln, die sich auf dem Gehweg ausgebreitet hat und uns halb-interessiert, halb-gelangweilt beobachtet. Sie stehen genau bei unserem Auto, ziemlich nah, ziemlich dicht, und fangen an Bierflaschen auszupacken und zu trinken. Wir bahnen uns einen Weg durch die Typen und setzen uns ins Auto: Heiko will sich vorne mit Kai unterhalten, deshalb packt er Felix und mich auf den Rücksitz. Ich lasse das Fenster runter und rufe den Typen zu: „He, habt ihr mal ein Bier für mich?“, dabei strahle ich sie an und versprühe meinen unwiderstehlichen Charme. Naja, wir alle wissen, dass es in so einer Situation reicht, über ein Paar halbwegs passabler Brüste zu verfügen, um alles zu bekommen, was man will. Und prompt wird mir dann auch eine Flasche Bier ins Auto gereicht, während meine Freunde sich irritiert angucken und sich fragen, wie ich das denn jetzt auf einmal geschafft habe. Wir winken nochmal fröhlich nach draußen zu der biertrinkenden Horde, ich nippe zufrieden an meiner Flasche Tyskie und die Fahrt geht los.
Die Fahrt dauert anderthalb Stunden. Während sich Heiko und Kai vorne gesittet unterhalten, streiten Felix und ich uns hinten über Atomkraft und Süßkartoffelpommes. Alles wie immer also.

Beim Festivalgelände angekommen, werden wir von ein paar Leuten, die Felix‘ Meinung nach wie Deichkind aussehen, über das Ankommensprozedere aufgeklärt. Da und da hinfahren, Sachen abladen, da und da parken, da und da Festivalbändchen holen. Klappt auch alles gut und alle sind sehr nett. Heiko findet sogar noch eine Parklücke auf dem Parkplatz für die Bands. Jemand von der Orga sagt mir, was wir wo hintun können und wo wir als nächstes hinsollen, und ich informiere die anderen darüber, wie es jetzt weitergeht: wir gehen zum Konzertbüro und sagen, dass wir da sind. Dort verpasst man uns auch die Bändchen um die Handgelenke und wir bekommen Verzehrgutscheine, dann zeigt man uns den Backstageraum und wir schleppen unseren ganzen Kram dahin.

Kai ernennt mich zum Social Media Manager. Meine Aufgabe ist: den ganzen Tag Fotos machen! Damit man später was zur Erinnerung hat, und natürlich, was viel wichtiger ist, für alle Social-Media-Kanäle und für den Whatsappstatus. Perfekt, denn das mache ich sowieso die ganze Zeit. Fotos. Rumposen. Selfies. Mich und andere und die Gegend und coole Details fotografieren. Lieb’s! Es ist noch früh, erst 16 Uhr, und es bleibt noch viel Zeit bis zum Soundcheck und zum Auftritt, der für 21:30 Uhr angesetzt ist. Ausnahmsweise mal nicht zur besten Kaffee-und-Kuchen-Zeit, sondern im Dunkeln, als vorletzte Band des Abends. Wir beschließen kollektiv, uns bei einer Nebenbühne ein französisches Chanson-Ensemble anzusehen. Auf dem Weg dorthin verlaufen wir uns und landen an einem wunderschön wildwüchsigen Aussichtspunkt mit tollem Blick über den Hunsrück. Schön hier.

Wir wandeln die schmalen Pfade durch die urwüchsige üppiggrüne Natur hindurch, bis wir die kleine Bühne finden, vor der sich schon allerhand Publikum versammelt hat. Ich entdecke eine leere Schubkarre und setze mich hinein und die französische Band beginnt ihre Chansons zu spielen.
Danach laufen wir weiter ziellos herum und schauen uns alles an. Auf der Hauptbühne (auf der später auch Pornophonique auftreten werden) spielt noch irgendeine Band, die wir uns anhören, auch wieder französischsprachig.
„Alle singen auf Französisch außer Pornophonique. Aber die passen mit ihrem Namen trotzdem gut ins Programm“, stellt Heiko fest.
Eigentlich hängen wir alle die ganze Zeit nur rum und trinken Bier. Also außer Heiko natürlich, der ja der Fahrer ist.

Dabei gäbe es hier schon einiges zu erleben und zu machen: In dem Gebäude, in dem sich auch der Backstageraum befindet, wurden Spielekonsolen und Monitore aufgebaut; man kann hier gepflegt zocken. Es erinnert mich sehr stark an meinen Besuch beim Syntax Error in Stockholm; der Flair ist ähnlich. Heiko und ich spielen Pong. Es gibt auch ein Konsolencafé und daneben einen Tisch mit Lötstationen. Hätte ich mal meinen Gameboy mitgebracht. Dann hätte ich hier in Ruhe den Speaker tauschen und die Polarisationsfolie anbringen können.
Um 20 Uhr findet Kai, dass es an der Zeit ist, die Setlist vorzubereiten. Das wird geradezu zelebriert. Kai sieht dabei sehr businessmäßig aus; ich traue mich fast gar nicht, ihn bei dieser wichtigen Aufgabe zu fotografieren.



Eine Stunde später beginnt der Countdown. Noch 30 Minuten bis zum Auftritt. Wir sammeln im Backstageraum unser Zeug zusammen und tragen alles zur Bühne. Sobald die vorige Band fertig ist und ihrerseits alles abgebaut hat, sind wir mit dem Aufbau dran. Dabei kann ich allerdings nicht viel tun, weil ich nicht weiß, was zu tun ist. Bin ja das erste Mal als Crewmitglied dabei. So leiste ich den einzigen Beitrag zum Aufbau, der in meiner Macht steht: Ich klappe den Barhocker auf und stelle ihn für Felix auf die Bühne. Fertig. Zufrieden betrachte ich mein Werk, während die anderen noch geschäftig Kram auspacken, aufstellen und verkabeln.

Dann der Schreck: Wir haben vergessen, einen Gitarrengurt einzupacken! Und wie soll Kai jetzt bitteschön spielen? Es ist weit und breit niemand von den anderen Bands in Sicht. Verdammt. Und nun? Hat mal jemand ‘nen Gitarrengurt dabei? Eine Stagehandperson zaubert kurzerhand eine Schnur herbei. Es wird eine rudimentäre Gitarrenhalterung improvisiert.

Damit Kai sich davon während des Auftritts nicht die Schulter aufschneidet (obwohl das die coolste Bühnenshow wäre, seit Ozzy der Fledermaus den Kopf abgebissen hat), bekommt er noch ein Handtuch dazu. Jetzt sieht er aus, als würde er gleich einen Säugling zum Bäuerchenmachen auf den Arm nehmen und sich den Rücken mit halbverdauter Muttermilch vollkotzen lassen.

Nur noch 17 Minuten bis zum Auftritt. Heiko und ich rennen nochmal los, um Gitarrengurte zu suchen oder Menschen, die uns einen leihen könnten. Ich sehe fremde Gitarren und Bässe hinter der Bühne und denke: Fuck it, zur Not leihen wir uns da einfach einen, ohne zu fragen, und bedanken uns später reumütig bei wem auch immer.
Aber glücklicherweise kann Heiko, das zuverlässige Mädchen für alles, im Backstage eine gitarrespielende Person auftun, die uns mit einem Gitarrengurt aushelfen kann. Punk sei Dank! Noch 13 Minuten bis zum Auftritt.

Alles ist vorbereitet, Sound ist gecheckt, Gitarre und Gameboy sind einsatzbereit.

Für die letzten verbleibenden Minuten verziehen Felix und Kai sich in eine ruhige Ecke. Heiko und ich nehmen unsere Plätze vor der Bühne ein – wie es sich für echte Pornophonique Ultras gehört, natürlich in der ersten Reihe. Der Bühnenbereich ist wie ein kleines Amphitheater: trichterförmig terrassiert befinden sich klotzige Natursteinstufen rund um ein Gebäude, welches mal eine Scheune gewesen sein mag, das aber nun als überdachte Bühne fungiert. Überall sind bunte Lichterketten angegangen, Dunkelheit hat sich auf das Festivalgelände herabgesenkt; oder, um mal eine meiner Lieblingsbands zu zitieren: „Night is falling / Sunset over the western sea“.
Diese Location ist echt abgefahren. Auf den Stufen sitzen inzwischen auch allerhand Menschen und warten darauf, dass es losgeht. Wir unterhalten uns ein bisschen mit zwei anderen Fans, die wir schon von anderen Gigs kennen. Um halb zehn geht es los. Pornophonique betreten die Bühne und legen los! Auf der großen Fläche vor der Bühne herrscht gähnende Leere, aber alle Stufen sind vollbesetzt. Will denn niemand stehen? Will denn niemand tanzen??? Also ich schon! Ganz alleine stehe ich vorne an der Bühne, als Pornophonique mit „Lemmings in Love“ loslegen. Wie kann man da ruhig sitzenbleiben? Ich versuche, Heiko von seinem Sitzplatz hochzuziehen, aber er weigert sich aufzustehen. Auch die anderen beiden Fans wollen lieber auf ihren Plätzen bleiben. Bin ich denn die einzige Rampensau hier? Pfff, na gut. Müsst ihr ja wissen. Ich bin alleine vor der Bühne und feiere meine Lieblingsband (eine meiner Lieblingsbands). Doch schon bald stelle ich fest, dass sich wippende Menschen auf die Tanzfläche gesellen. Und mehr. Und mehr. Und noch mehr. Mit jedem Song werden es mehr. Bald steht auch Heiko neben mir und wir beide – die Pornophanatiques – feiern zusammen in althergebrachter Manier unsere Helden ab; diejenigen beiden Schnuckis, durch die wir uns kennen- und liebengelernt haben. Um uns herum dichtes Gedränge, viele tanzende fröhliche Menschen, vor uns eine glückliche Band in top Form, dazu eine krasse Lightshow. Plötzlich steht der festivaleigene Tontechniker, mit dem ich mich vorhin schon ein wenig unterhalten habe, neben mir, schaut mich fragend an und brüllt mir ins Ohr:
„Ist der Sound in Ordnung? Du kennst die Songs besser als ich!“
„Alles super! Nur vorhin kurz ein bisschen viel Hall, sonst alles gut!“, brülle ich zurück und komme mir sehr wichtig vor.

Pünktlich um 22:15 Uhr ist die Show vorbei. Zwei zufriedene Künstler verlassen unter großem Applaus und Zugaberufen die Bühne. Nun schlägt unsere Stunde. Heiko holt die Kiste mit dem Merchandising. Das heißt, momentan besteht das Merchandising aus den beiden Alben, weil noch keine neuen T-Shirts gedruckt wurden. Wie vorab besprochen positionieren wir uns direkt an der Bühne und zweckentfremden eine PA-Box als Merchstand.
„Hier gibt‘s CDs!“, rufe ich in Richtung Publikum, und es kommen einige Leute zum Gucken und Kaufen. Heiko hat allerhand mit Kaufberatung zu tun und geht gänzlich in seinem Job auf. Er kann das aber auch verdammt gut. Seinem Verkäufercharme bin ich ja schon vor knapp zwei Jahren auf dem Phungo-Festival erlegen, bloß waren wir damals noch fest in unseren uns zugedachten Verkäufer-und-Fan-Rollen verankert und hatten uns damals gar nicht wirklich unterhalten, außer das obligatorische „Ich möchte das schwarze T-Shirt, gibt‘s das auch in M?“ und so weiter. Aber ich weiß noch, dass ich schon damals heimlich dachte „Wow, ist der süß, voll sympathisch!“
Tja, und jetzt stehe ich hier selbst mit am Merch, und erzähle der Kundschaft etwas zu den beiden Alben, und sobald sie eins oder zwei gekauft haben fragen manche mich schüchtern, ob die Band die CDs wohl unterschreiben könnte, und vielleicht sogar ein Selfie … genau wie ich damals. „Damals“. Vor einem Jahr. Auf den Tag genau einem Jahr. Andauernd musste ich mir in den letzten fünf Wochen von Heiko anhören: „Der Schwertmeister, der da damals vor mir am Merch stand, war ziemlich schüchtern.“ (Damit spielt er darauf an, dass ich an jenem Tag ein T-Shirt mit der Aufschrift Ich hab den Schwertmeister besiegt trug. Und ich fand mich gar nicht schüchtern! Ich bin über meinen Schatten gesprungen und habe alle angesprochen – ihn, Kai und sogar Felix, meinen musikalischen Superhero! Ich war also genaugenommen enorm mutig! Von wegen schüchtern, tsss …)
Innerlich muss ich schmunzeln. Hier in diesem Moment spüre ich die 180°-Wende in meinem Leben deutlicher denn je. Und jetzt, hier, quasi hinter dem Merchtresen, antworte ich selbstbewusst auf die verhaltene Frage, ob die Band denn ein Autogramm geben könnte: „Klar! Warte mal.“ und drehe mich um zu Felix, zupfe ihn am Ärmel, bitte ihn darum, doch mal hier eben herzukommen für die und die Fans, und die beiden Rockstars genießen es sichtlich, jetzt nochmal im Rampenlicht zu stehen und so umschwärmt zu werden, und nehmen sich alle Zeit der Welt für alle Leute, die was von ihnen wollen – sei es eine Signatur, ein gemeinsames Foto oder ein Crashkurs in Gameboymusik.

Als schließlich auch der letzte Fan zufrieden abgezogen ist, bringen wir die Merchkiste weg und machen Pause. Ich hab mittlerweile eine unbekannte Anzahl Radler, oder, wie ich es nenne, Zitronenbier intus. Kai, Heiko und ich schauen uns die letzte Band des Abends an, mit dem coolen Namen die Unfuzzbarn. Sie sind verdammt gut. Felix ist nach dem ganzen Trubel erstmal abgetaucht. Ich finde ihn später in einem Pavillon, wo er sich mit einem Typen unterhält. Felix wirkt erleichtert, als er mich sieht.
„Alex, gut dass du da bist. Er hört auch Bondage Fairies, da bist du doch genau der richtige Ansprechpartner“, sagt Felix und überlässt mir sofort das Feld. Ich lächle den unbekannten Boy an und nehme ihn komplett in Beschlag – ein weiterer Bondage-Fairies-Fan! Sofort socializen! Connecten! Allerdings kann ich das Gespräch über meine absolute Lieblingsband nur ungefähr eine Minute aufrechterhalten, dann wird es meinem Gegenüber offenbar zu langweilig. Er ist nicht so begeistert wie ich. Er will sich nicht einmal im Detail anhören, wie ich vor zwei Monaten den Drummer der Bondage Fairies bei einem Auftritt in Södertalje getroffen habe. Stattdessen fängt der Typ an, mir von seiner Arbeit als Pädagoge an einer Waldorfschule zu erzählen. Ich bin ihm schutzlos ausgeliefert, während meine Freunde etwas abseits sitzen, Bier trinken und meine hilflosen Blicke ignorieren. Ich bin hier gefangen. Wie soll ich hier jemals wieder rauskommen? Danke, Felix, dafür werde ich mich irgendwie rächen, denke ich. Meine Blase kommt mir zu Hilfe, indem sie nach Entleerung schreit und ich endlich einen Grund habe, mich zu entschuldigen, aufzustehen und das Weite zu suchen. Mir ist eh schon ganz schwammig. Auf dem Weg zu den Toiletten stelle ich fest, dass ich die halbvolle Bierflasche, die ich gerade in der Hand halte, nicht austrinken sollte. Das würde ich wahrscheinlich noch auf der Rückfahrt bereuen. Also stelle ich die Flasche im Toilettenwagen sorgfältig ab, gehe aufs Klo und statt mich wieder neben den Waldorfpädagogen mit dem guten Musikgeschmack zu setzen, flüchte ich mich lieber zu meinem Liebsten und frage ihn, wann wir eigentlich zurückfahren. Bald. Jetzt so. Das ist gut. Ich bin müde und ziemlich betrunken. Es ist auch schon nach Mitternacht.
Wir holen das ganze Geraffel und schleppen es zum Auto, begleitet von gelegentlichen „Gameboy!“-Rufen wildfremder begeisterter Menschen in Felix‘ Richtung. Rein mit dem Krempel in den Kofferraum. Heiko und Felix steigen schonmal ein. Kai und ich gehen zur Parkplatzausfahrt, über die ein Absperrband gesperrt ist. Wir finden, dass wir beide das Absperrband hochhalten müssen, damit das Auto darunter durchfahren kann. Während des Wartens erfreuen wir uns an der bunten Lichterkette, die in der Nähe der Ausfahrt in den Bäumen hängt, und beschließen, ein letztes Lichterkettenselfie zu machen, was aufgrund des mangelnden Lichts (es ist halb ein Uhr nachts), unseres Alkoholpegels und der Tatsache, dass wir dabei ein Absperrband hochhalten, nur schwerlich gelingen will. Aber hey, letztlich kommt ein super Erinnerungsbild zustande!

Und hier kommt auch schon das Bandmobil angeheizt, rollt limbomäßig unter dem Absperrband durch, wir steigen ein, verabschieden uns noch aus dem Auto heraus von den zwei just in diesem Moment vorbeilaufenden Fans von vorhin und machen uns auf den Rückweg nach Darmstadt. Felix und ich sind zu erschöpft, um uns zu streiten, wir schlafen beide ein. Zwischendurch bekomme ich es aber hin, meine Schnappschüsse zu sichten und an Kai zu schicken, damit er wenigstens was für seinen Whatsappstatus heute Abend hat. Bald bekommt er das Ganze nochmal in höherer Auflösung. Ein Foto habe ich vorhin auch schon mit meinem Fanaccount getwittert. Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit als Social Media Manager. Ich glaube, die Band ist es auch. Ich penne weg.
Wieder in Darmstadt angekommen, laden wir zunächst wieder die Sachen im Proberaum ab, dann bringen wir Felix nach Hause und zum Schluss noch den Kai, und gegen drei Uhr morgens sind schließlich auch Heiko und ich wieder zu Hause. Müde, zufrieden, glücklich und voller Eindrücke. Ich fühle mich fast wie bei dem Konzert damals vor einem Jahr: Aufgeregt, dankbar und total aufgekratzt. Und verdammt übermüdet. Es war ein großartiger Tag!
