Mein erster Termin bei der Endokrinologie
Diese Woche gibt‘s endlich mal wieder einen Tatsachen- und Reisebericht nach all den fiktiven Roman-Snippets! Beziehungsweise einen Erfahrungsbericht über meinen ersten Termin bei der Endokrinologie zur anstehenden Hormonersatztherapie mit Testosteron und das ganze Drumherum an diesem Tag.
Die letzten Monate waren für mich im privaten Bereich sehr anstrengend und intensiv und es ist sehr, sehr viel passiert – zu vieles und zu persönliches, um darüber in der Öffentlichkeit zu schreiben. Zuerst überschwemmte mich Anfang des Jahres viel Negatives, Schlechtes, aber immer mehr Richtung Gegenwart kamen zum Glück immer bessere, schönere Begebenheiten hinzu. Momentan fühle ich mich dank dieser – zum Teil auch unvorhergesehenen – Entwicklungen stabil, optimistisch und es geht mir gut.
Jedenfalls arbeitete in der Vergangenheit alles auf diesen einen Punkt hin, an dem ich mich gegenwärtig nun befinde: Ich habe einige Monate der gesetzlich geforderten begleitenden Psychotherapie hinter mir und kann nun den nächsten Schritt in meinem persönlichen Entwicklungsprozess gehen und eine Hormonersatztherapie (HET oder auch HRT) mit Testosteron beginnen.
Vor gut zwei Wochen telefonierte ich also mit dem Fachbereich Endokrinologie (das ist ein Teilgebiet der Medizin, das sich mit Hormonen befasst) der Uniklinik Frankfurt und vereinbarte dort einen Termin für ein Erstgespräch. Um der Leserschaft mal in einem Nebensatz ein kleines feines Update meinerseits zu droppen: Frankfurt deshalb, weil ich plane, in ein paar Monaten nach Hessen zu ziehen. Zwar habe ich deswegen zurzeit einen langen Anfahrtsweg von dreieinhalb oder vier Stunden zur Uniklinik, aber wohne nächstes Jahr dort quasi um die Ecke.
Überraschenderweise erhielt ich prompt einen Termin für den 16. November, also mit nur zwei Wochen Wartezeit. Einerseits war ich deshalb am Telefon ziemlich aufgeregt und freute mich wie bescheuert, andererseits machte mich der kurze Zeitraum ziemlich nervös. Ich hätte nicht gedacht, dass es schon so schnell losgehen würde, darauf war ich mental gar nicht eingestellt! Dennoch nahm ich den erstbesten Termin und hatte noch genau 14 Tage Zeit, mich innerlich darauf vorzubereiten. In diesen zwei Wochen ging ich voll auf dem Zahnfleisch, wie es so schön heißt. Ich war verdammt nervös und zermarterte mir andauernd den Kopf, ob denn alle Entscheidungen, die ich über mich treffe, die richtigen sind. Ich hatte schlichtweg Angst vor den Veränderungen und all dem Neuen, das damit einhergeht, wenn eins medizinisch transitioniert. Von morgens bis abends drehten sich meine Gedanken nur darum, dass es bald losgehen würde. Gleichzeitig passierten aber natürlich noch andere Dinge in meinem Leben. Stichwort: anstehender Umzug und damit einhergehend die Notwendigkeit, mir ein wenig Geld nebenbei zu verdienen. Im Klartext: Jobsuche. Außerdem: Vorbereitung auf mein Studium, das ich nächstes Jahr beginnen möchte. Ihr seht, ich bin im Umbruch. In einem großen Umbruch. Ich bin der personifizierte Umbruch. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass ich eher zerbreche als umbreche. Oder schlimmer, dass überhaupt nichts bricht, sondern alles so bleibt, wie es ist. Es ist halt viel auf einmal. Und ja, das habe ich mir so ausgesucht. Nur so funktioniert das. Halbe Sachen saugen. Wenn, dann richtig!
Eine Sache, die mich in jenen Tagen auch viel beschäftigte, war: Will und muss ich da ganz alleine hinfahren? Bekomme ich das hin? Was ist besser – alleine zu diesem sehr wichtigen Termin gehen oder Unterstützung mitbringen? Allgemein bin ich eher ein sich durchschlagender einsamer Wolf. Bis jetzt bin ich zu wichtigen Sachen immer alleine gegangen; ich brauche niemanden dafür. Aber dieses Mal sagte mir meine völlig durcheinandergeratene chaotische Gefühlslage eindeutig: Ich bin zu sehr neben der Spur, um das souverän allein zu packen! Es ist gut, wenn jemand mitkommt! Gib dir einen Ruck und sieh ein, dass du ruhig um Hilfe und Unterstützung bitten darfst!
Also chattete ich ein paar Tage vor dem Termin Felix an und fragte, ob er mich zur Uniklinik begleiten würde. Ich hatte ihm vorher schon Bescheid gesagt, dass ich dann und dann den und den Termin haben würde und wir waren für diesen Tag sowieso schon verabredet gewesen, da er in Darmstadt wohnt und wir uns zurzeit sowieso viel zu selten sehen. Ohne Umschweife, ohne Fragen, ohne Zweifel sagte er mir sofort zu und ich war verdammt erleichtert deswegen. Verdammt erleichtert! Das nahm mir einen erheblichen Teil der Angst. Ich würde an dem Tag nicht wie befürchtet allein sein und panisch abdrehen, ohne Halt zu finden, sondern hätte den brandungsfestesten Fels der Welt an meiner Seite, und gleichzeitig einen der sehr wenigen Menschen, dem ich vorbehaltlos vertrauen kann. Ein beruhigender Gedanke.
Am Montag, den 15. November, ist mein Auto fertig gepackt und bereit für den nächsten Road Trip. Bett bezogen. Extra Wolldecken gegen die Wintertemperaturen. Wasser, Öl und Tank voll. Reifendruck geprüft. Unterlagen für den Arzttermin zusammengesucht. Und die Gameboys eingepackt. Es kann losgehen. Zunächst einmal nach Erfurt, weil ich an diesem Tag noch eine Psychotherapiesitzung dort habe, bei der ich dann auch das erforderliche Indikationsschreiben von meinem Arzt erhalte. Dieses Schreiben wird benötigt, weil damit von Seiten des Therapeuten grünes Licht für die Hormontherapie gegeben wird. Auf den Erhalt dieses Schreibens habe ich seit März mit viel Tränen, Pisse, Blut hingearbeitet. Und nun halte ich es endlich zitterig in der Hand. Glücklich und aufgeregt gehe ich nach der Sitzung um 14 Uhr zum Auto. Allerdings rege ich mich ein wenig darüber auf, dass mein Arzt mein Auftreten in dem Schreiben als „jugendlich und jungenhaft“ beschreibt. Soll das schmeichelhaft sein, oder realistisch? Whatever. Nächster Stopp: Darmstadt, meine zukünftige neue Heimat! Die Fahrt nach Darmstadt ist gut, wie immer, aber mir schwirrt die ganze Zeit der Kopf. Es passiert gerade so viel auf einmal. Außerdem bin ich seit drei Uhr morgens wach und allein deswegen ziemlich kaputt. Hinzu kommt die Autofahrt von meinem derzeitigen Wohnort nach Erfurt, auch eine Stunde. Und nun nochmal rund drei Stunden. Genaugenommen bin ich gerade überhaupt nicht in der Verfassung, hinterm Steuer zu sitzen. Eigentlich sollte ich gerade gar nicht Autofahren. Ich tue das, was ich immer tue, und weshalb ich Autofahren so liebe: Musik an! Ich singe alles mit und stelle mir dabei vor, dass meine Stimme schon richtig schön tief ist und toll klingt, bis ich Halsweh bekomme. Es ist unabdingbar, dass ich auf dieser Fahrt das Album Perpetual Motion People von Ezra Furman höre. Denn durch Ezra habe ich ja damals vor gut zwei Jahren erkannt, dass ich selbst trans bin, und ihre Musik ist nach wie vor enorm wichtig für mich, und Perpetual Motion People gehört natürlich immer noch zu meinen absoluten Lieblingsalben of all times! Während der Fahrt denke ich erstmals darüber nach, welche Musik ich eigentlich morgen früh hören möchte, wenn wir zur Uniklinik fahren. Das ist doch wichtig vor diesem wichtigen Termin! Ich schwanke zwischen: Perpetual Motion People, weil es ja ein bedeutungsschweres Album für mich ist, das sozusagen den Auftakt für meinen persönlichen Transweg darstellt? Oder höre ich das dritte Album von Bondage Fairies, weil das mein Lieblingsalbum von denen ist und dann könnte ich es laut machen und während der Fahrt Party machen? Oder das zweite Album von Bondage Fairies (Cheap Italian Wine), weil da die Songs „Why I Didn‘t Like August 93“ und „nv4.dll“ drauf sind, die ich gern auf Anschlag höre und mitsinge? Ich verwerfe aus offensichtlichen Gründen schnell die kurz aufflackernde Überlegung, stattdessen ein Album von Pornophonique anzumachen als Soundtrack für diesen wichtigen Meilenstein in meinem Leben. Aber ich zog es immerhin in Betracht. Letzlich entscheide ich mich, dass meine allerneueste Musikentdeckung, das Album Our Days Mind the Tyme von The Dolly Rocker Movement, die passendste Wahl für die morgige Fahrt zur Uniklinik ist. Die Musik beruhigt mich sehr und ich kann es während der Fahrt auch im Hintergrund laufen lassen, falls Felix und ich uns auch unterhalten wollen. Gute Wahl, finde ich. Ich bin froh, wenigstens in dieser Hinsicht eine endgültige Entscheidung getroffen zu haben. The Dolly Rocker Movement it is then.
In Darmstadt kenne ich mich inzwischen ganz gut aus, da ich seit August (seit diesem Blogbeitrag hier) jeden Monat dort war. Ich entschied mich, dieses Mal auf dem Messplatz zu parken. Der ist kostenlos und schön weitläufig und außerdem nah dran an Felix‘ Homebase, sodass ich es morgen früh nicht weit haben werde. Aber heute Abend habe ich zunächst einmal das traditionelle Date mit Heiko – wir gehen nämlich jedes Mal Pizza essen, wenn ich in Darmstadt bin, und laden uns immer abwechselnd gegenseitig ein. Nun ja, traditionell ist diese Tradition erst seit diesem Treffen. Denn eine Tradition ist ja erst nach dreimaligen Stattfinden eine Tradition. Und heute ist das dritte Mal. Fast wäre das Treffen nicht zustandegekommen, da wir beide eigentlich total müde und kaputt sind. Trotzdem raffen wir uns auf und werden dafür mit einem gemütlichen Abend, viel Gequatsche und leckerem Essen belohnt. Immer wieder schön und extrem wertvoll für mich, I love it! Shout-out an Heiko, den snygga pojken, och tack för maten och vänskap! Um 22 Uhr machen Heiko und ich Feierabend, verabschieden uns und ich flausche mich erschöpft in die Decken und Kissen meines Autos. Es ist noch ziemlich laut auf dem Messplatz. Wie das halt bei öffentlichen Parkplätzen so ist, herrscht ein Kommen und Gehen. Laute Unterhaltungen, Autotüren knallen, Motoren springen an, Autos rollen weg, Leute latschen einmal quer über den Platz. Es dauert etwas, bis ich einschlafen kann. Ich bin einfach nur extrem aufgeregt wegen morgen und frage mich zum millionsten Mal, ob ich die Hormontherapie wirklich machen soll. Und was das für Auswirkungen hat, besonders mit meinem sozialen Umfeld. Mein Leben lang war ich ziemlich allein und emotional auf mich gestellt und wuppte trotzdem alles, was das Leben sich so ausgedacht hat. Und nun stelle ich fest, dass es mittlerweile etliche Menschen in meinem Leben gibt, die mir einfach (erschreckenderweise) verdammtnochmal viel bedeuten. Und mache mir Gedanken darum, wie sich unsere Freundschaften entwickeln werden, wenn ich mich plötzlich zumindest körperlich so sehr verändere und irgendwann (hoffentlich) als maskulin gelesen werde. Können meine Freunde dann immer noch vertraut mit mir umgehen? Mögen sie mich dann noch? Kommen sie damit klar? Darf ich dann immer noch so sein, wie ich bin – impulsiv, offen, viel zu nachdenklich, extrem körpernähe-, liebhaben-, zuspruchs- und umarmungsbedürftig, sensibel, irrational und emotionengeleitet … oder ist dies alles dann nicht mehr angebracht, weil es zu unmännlich wirkt? Wer bestimmt das? Wirkt das dann peinlich, wenn ich weiter so bin, ich ich nunmal bin? Ab wann muss ich das abstellen? Und wie? Und warum? Und wer bin ich dann? Und ist es das, was meine Freunde dann wirklich sehen wollen? Oder ich? Erwartet das irgendjemand?
Erschöpft vom vielen Nachdenken und von dem langen Tag (ich bin seit drei Uhr morgens wach! Seit 20 Stunden!) schlafe ich ein.
Dienstag, 16. November 2021. Um vier Uhr morgens werde ich wach. Der Messplatz liegt regungslos still da. Sehr angenehm. Auf diesem Platz hatte ich bis jetzt noch nicht übernachtet. Ich bin extrem dehydriert; mein Körper krakeelt nach der Wasserflasche. Aber anstatt dann wieder einzuschlafen, liege ich weiter wach. Denn mit Einsetzen meines Bewusstseins sind auch sofort all die Gedanken, Ängste, Befürchtungen wieder da. Und die Aufregung! Heute ist der große Tag! Heute ist der Auftakt für meine Hormontherapie, die meinen Körper für den Rest meines Lebens verändern wird! Doch vorerst bleibt mir nichts anderes übrig, als mich beim trüben Schein der Parkplatzlaternen tiefer in meine warmen Decken zu kuscheln und auf den Anbruch des Tages zu warten, um mich herum mein Auto wie ein schützender Metallpanzer. Und vielleicht doch nochmal einzuschlafen, bis der Wecker um acht Uhr geht? Fehlanzeige. Keine Chance. Mein Kopf so: nö.
Irgendwann, vielleicht so gegen halb sieben, wacht die Stadt um mich herum langsam auf. Automotoren. Türenknallen. Menschen. Laut wummernde gedämpfte Musik, die nur halbherzig runtergedreht wird, wenn das Auto anhält. Lautstark „King of my Castle“ von Warmdue Project in dem einen, „TNT“ von AC/DC in dem anderen Auto, die in Hörweite parken. Was für ein Kontrast. Ich denke: Wisst ihr nicht, was Herbert Feuerstein mal gesagt hat? Ein Lied muss langsam ausgeblendet werden, wenn man es nicht zuendehört, niemals einfach mittendrin ausmachen!
Obwohl ich schon so ewig lange wach bin, wird mein Morgen dann kurzzeitig plötzlich doch noch ziemlich stressig. Ich habe Mühe, in Gang zu kommen. Um acht Uhr schalte ich meinen Wecker ab. Meine beste Freundin Janina schickt mir Sprachnachrichten, die ich abhöre. Dann muss ich mich noch anziehen, Zähneputzen, Klo. David schreibt mich auch an und ich verspreche, mich gleich zu melden. Vergesse ich aber, weil ich die Zeit verpeile und plötzlich ist es viertel vor neun und ich muss los. Von Felix habe ich heute Morgen noch gar nichts gehört, ist der überhaupt schon wach? Ich bin extrem fahrig, nervös, zitterig, irgendwie auch traurig, aufgeregt, happy, alles gleichzeitig. Ich schließe das Auto ab und hetze los, damit alles im Zeitplan bleibt: Um neun Uhr bei Felix aufschlagen und mich beruhigen lassen. Um viertel nach neun gemeinsam zum Messplatz zurückgehen. Um neun Uhr dreißig zusammen nach Frankfurt fahren. Im Parkhaus parken. Um zehn Uhr dreißig meinen Termin bei der Endokrinologin wahrnehmen. Ist doch alles ganz einfach, easy peasy.
Punkt neun Uhr bin ich bei Felix. Ich darf weder was essen noch trinken, weil heute Blutabnahme, aber er gibt mir direkt einen Stapel Comics zur Ablenkung. Aber ich blättere lieber in einem Katalog für Gastronomiebedarf, der auf dem Küchentisch liegt. Ich bin noch keine fünf Minuten da, da entbrennt auch schon eine (wie immer) hitzige Diskussion zwischen uns über die vermeintliche Notwendigkeit, Karotten zu schälen oder die Schale dranzulassen. Das habe ich vermisst. Ich bin so froh, bei Felix zu sein. Ich fühle mich angekommen, behütet und zu Hause. Außerdem schlägt er vor, dass wir mit seinem Auto fahren, und dass er fährt, nicht ich. In Anbetracht meines derzeitigen Geisteszustands eine hervorragende Idee. Um halb zehn fahren wir los, kurzer Stopp bei meinem Auto, ich hole die Unterlagen (für die Ärztin) und die Tasche mit den Gameboys (für Felix und mich), und dann fahren wir weiter nach Frankfurt. Auf dem Beifahrersitz merke ich, dass ich sehr dankbar für diese Planänderung bin. Zwar hab ich den USB-Stick mit der Musik vergessen und wir hören Radio, aber ich stelle fest, dass ich mich sowieso auf rein gar nichts konzentrieren kann. Ich bin einfach nur hibbelig. Ein paar Mal merke ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllen, ich bin kurz vorm Weinen, aber – keine Ahnung, wie – Felix scheint das jedes Mal zu bemerken und erklärt mir dann ausführlich und geduldig, wie der Aktienmarkt funktioniert und was Broker sind und wie man Aktien kaufen und verkaufen kann. Bro, dafür liebe ich dich!
Die ganze Zeit habe ich Angst, zu spät zu dem Termin zu kommen. Andererseits wünsche ich mir, zu spät zu kommen, damit mir die Entscheidung abgenommen wird, ob ich das wirklich machen will. Aber natürlich sind wir rechtzeitig da. Das Parkhaus ist randvoll, kein Parkplatz mehr frei. Ich steige schonmal aus und gehe allein zum Haus 23 der Uniklinik. 23! Der Klinikkomplex ist riesig mit einer unüberschaubaren Menge an riesigen Gebäuden, die alle gleich aussehen. Es ist schon 10:15 Uhr, nur noch eine Viertelstunde bis zu meinem Termin. Panik. Ich irre verpeilt draußen in den Häuserschluchten umher, bis ich wieder auf Felix treffe, und wir finden zusammen den Eingang von Haus 23. Schon wieder bin ich dankbar, dass er mitgekommen ist. Ihn kann nichts erschüttern, meine Aufregung lässt ihn einfach völlig kalt. Und das ist genau das, was ich gerade brauche.
Bei der Anmeldung vor dem Gebäude trifft mich dann die schlechte Nachricht unvorbereitet mit voller Wucht: Ich darf keine Begleitung mitbringen, weil das für meinen Termin nicht erforderlich ist. Ich muss da alleine rein! Kurz, ganz ganz kurz, bin ich ganz ganz kurz davor, einfach umzudrehen, es sein zu lassen. Für immer mit dem Körper zu leben, mit dem ich geboren wurde, in dem ich mich fremd und unwohl fühle. Zu resignieren und es für den Rest meines Lebens immer und immer wieder über mich ergehen zu lassen, dass ich von außen falsch eingeordnet werde und mir jedes Mal sehnsüchtig ein anderes Aussehen wünsche, wenn ich in den Spiegel schaue, und niemals Sänger zu werden. Aber da sagt Felix schon ganz pragmatisch, ich solle ihn einfach anrufen, wenn ich wieder draußen bin. Ich will ihn nochmal kurz viel zu lange an mich drücken, dann darf er gehen und ich betrete allein die Uniklinik.
Die Person am Infodesk wedelt mich irgendwo nach rechts und nuschelt was in die Maske. Unsicher gehe ich ein paar Schritte, dann kommt ein Wartebereich voller Leute, in dem eins eine Wartenummer ziehen muss, auch wer schon einen Termin hat. Etwas ratlos fummle ich an dem Automaten herum, bis mir jemand sagt, dass ich auf den Knopf drücken soll, damit eine Marke herauskommt. Das verdeutlicht mir, dass a) ich echt lange nicht mehr beim Arbeitsamt gewesen bin, da gab es solche neumodischen Automaten mit Knopfdruck früher noch nicht, sondern nur so eine Zettelrolle, und b) ich mich mal wieder als der unmännlichste Kerl auf Erden bewiesen habe, weil Männer doch allgemein immer sofort in Sekundenbruchteilen verstehen, wie irgendwas funktioniert. Oder etwa nicht? Vor allem, wenn es sich um einen Automaten mit lediglich einem einzigen Knopf handelt. Meine Wartemarke: 755.

Die Nummer auf dem Screen: 735. Es ist fast halb elf. Cool, denke ich, kann ich noch kurz pieseln gehen. Die Toiletten sind direkt am Wartebereich, ich gehe rein.
„Das ist für Herren!“, ruft mir die Putzfrau hinterher.
„Yo“, sage ich und schließe die Tür hinter mir.
Die Endokrinologie der Uniklinik Frankfurt, in der sicherlich sehr oft sehr viele Personen zu Gast sind, die sich gerade mitten in der Transition befinden, hat tatsächlich nur binär beschriftete Toiletten. Glanzleistung.
Das Warten im rappelvollen Wartebereich zieht sich hin. Ich habe Angst um meinen Termin, der längst verstrichen ist, und frage sicherheitshalber nochmal am Infodesk, ob denn mein Termin wirklich trotzdem noch ist, obwohl ich noch nicht drangekommen bin. Das Nuscheln in die Maske hinter der Glasscheibe deute ich so, dass mein Termin nicht verfällt. Es wird elf. Es wird nach elf. Ich denke an den armen Felix, der jetzt irgendwo draußen für unbestimmte Zeit auf mich warten muss und hoffe, er kann die Zeit irgendwie produktiv nutzen. Meine Nummer wird aufgerufen. Ich gebe meinen Terminzettel, meine Wartemarke und meine Versichertenkarte ab. Es wird eine neue Akte für mich angelegt und mir in die Hand gedrückt.

„So, Frau Homann, ich zeige Ihnen mal, wo sie jetzt hingehen müssen“, sagt die Person an der Anmeldung freundlich aufgesetzt. Seufz und Stich. Wie unsensibel ist es, Leute in der Endokrinologie aufgrund der Angaben auf Ihrer Versichertenkarte zu gendern? Uniklinik Frankfurt: Ja.
Einsam klappere ich den tristen Krankenhausgang entlang, biege links um die Ecke. Hier: Stille. Keine Menschen, nur ich. Bin ich richtig? Auf den Türschildern stehen Namen von Leuten, die in der Endokrinologie arbeiten. Scheine richtig zu sein. Ich muss nur ein paar Minuten warten, dann werde ich aufgerufen: „Homann.“ Das freut mich. Geht doch! Ich weiß, hier habe ich es mit einem Menschen zu tun, der feinfühliger und sensibler mit dem Thema Transidentität umgeht als die an der Anmeldung.
Meine Endokrinologin ist jünger als ich und sehr sehr nett. Ich finde sie sympathisch. Sie nennt mich bei meiner korrekten Anrede und möchte ein paar Sachen zu meiner Vergangenheit wissen, auch zu meiner gegenwärtigen Situation und warum ich von so weit weg anreise. Nächstes Jahr Neuanfang, sage ich. Dann schaut sie sich noch das Indikationsschreiben an und einen Vorbefund, den ich mitgebracht habe, fragt nach Krankheiten in der Familie. Ich bekomme einen Aufklärungsbogen, den ich mir zu Hause in Ruhe durchlesen soll und den wir nächstes Mal gemeinsam durchgehen werden. Sie erzählt mir von den zu erwartenden Auswirkungen einer Hormonbehandlung – tiefere Stimme (yes!), Körperbehaarung, Muskelaufbau und auch von eventuellen unerwünschten Dingen, die dann eintreten können (Haarausfall. Gna.). Sie meint, dass bei Beginn der Behandlung verstärkt Augenmerk auf meine psychische Gesundheit gelenkt werden sollte, wegen der Depressionen in der Vergangenheit. Finde ich einerseits gut, dass das ernstgenommen wird, und andererseits doof, weil hier ein ein nicht mehr zutreffender Zustand aus der Vergangenheit als Referenzwert genommen wird, um mich zu bewerten. Fühlt sich ein bisschen so an, als würde mir nicht geglaubt werden, dass es mir momentan gut geht. Aber ein Gutes hat es: Die Ärztin schlägt vor, mit Testogel anzufangen und nicht mit Spritzen. Das Gel wird täglich auf die Haut aufgetragen und kann entsprechend dosiert oder sogar wieder abgesetzt werden. Eine Depotspritze hingegen wird nur alle zwölf Wochen verabreicht und wenn das Zeig erstmal drin ist, ist es drin. Ich willige freudig ein, denn auch ich hatte mich im Vorfeld für Testogel entschieden und gehofft, die Ärztin würde mit mir einer Meinung sein.
Blöderweise hat sie etwas am Indikationsschreiben zu beanstanden, da fehlt ein bestimmter Wortlaut, der rüberbringt, dass von Seiten des Therapeuten eine Hormonbehandlung bei mir angebracht ist. Sie schreibt mir auf, was da genau drinstehen soll. Dann bekomme ich noch einen Schrieb, den ich meiner Gynäkologin geben soll. Bis zum nächsten Termin muss ich dort ein paar Untersuchungen machen lassen, um auch von dieser Seite aus grünes Licht für meine Testodröhnungen zu bekommen. Zum Schluss vereinbaren wir, dass ich im Januar oder so wiederkomme, mit dem neuen Indikationsschreiben und dem Befund von der Gynäkologie. Dann schauen wir uns alles zusammen an, ich werde untersucht, und wenn dann alles gutgeht, bekomme ich wenig später die ersten Rezepte per Post zugeschickt.
Das Gespräch verläuft sehr angenehm und freundlich, dann kommt die erwartete und gefürchtete nächste Quest auf mich zu: Blutabnahme! Ich hasse Blutabnehmen. Weil es schon immer so war, dass ich nach dem Blutabnehmen umkippe. Jedes Mal dasselbe: Spritze rein in den Arm, Ohren fangen an zu rauschen, Tinnituspfeifton setzt ein, mein Kopf prickelt komisch kalt, und mir wird schwarz vor Augen, und weg ist mein Bewusstsein. Aber nun ja, es muss ja sein. Meine Ärztin druckt mir so ein paar Sticker mit Barcodes aus, auf denen mein Name steht. Damit soll ich da und da hingehen, da ist die Blutabnahme, und denen das geben.
Bei der Blutabnahme wieder Menschen und Wartemarken. Es ist 11:38 Uhr. Ich schreibe Felix, dass jetzt nur noch die Blutabnahme kommt, dann das obligatorische Umkippen und Wieder-zu-mir-Kommen, und dann können wir wieder los. Bald bin ich dran, ein netter Arzt stellt sich mir vor, während ich mich auf einen Stuhl setze.
Der Arzt nimmt die Sticker mit meinem Namen drauf entgegen, schaut sie an und sagt ironisch: „Ach, mehr nicht?“
Dann stellt er die gleiche Anzahl Plastikröhrchen bereit, für jeden Sticker eines. Argh! Mir wird also nicht nur Blut abgenommen, sondern unverhältnismäßig viel Blut! Musste dieser Kommentar denn unbedingt sein? Das ist doch sowieso schon so schrecklich für mich!
„Beim Blutabnehmen kippe ich immer um“, warne ich ihn vor.
„Solange Sie nicht nach vorne kippen“, antwortet der Arzt lapidar.
„Ich werde mich bemühen“, sage ich.
Ich schaue ganz weit weg, dann mache ich die Augen zu, während ich das Pieksen in der Armbeuge spüre. An was Schönes denken!, befehle ich mir. Ich denke an vorhin, als wir am Küchentisch saßen und über Sinn und Unsinn des Karottenschälens gestritten haben. Ich finde nach wie vor, dass die Schale bei Biomöhren ruhig dranbleiben kann. Die tut doch nichts.
Nach kurzer Zeit ist der Arzt fertig mit dem Anzapfen. Ich bekomme ein Pflaster aufgedrückt, darf meinen Arm wieder anziehen, raffe meinen Kram zusammen und gehe im Zeitlupentempo zur Tür. Werde noch gefragt, ob alles in Ordnung ist. Ja, doch, geht. Mein Bewusstsein ist noch da. Meine Beine sind bloß total wobbly und ich traue meinem Kreislauf nicht so recht. Lieber schnell rausgehen, denke ich, ich will nicht hier drinnen umkippen! Lieber draußen bei Felix! Ich verschiebe also bewusst das Umkippen und schwebe weiter schneckengleich im Zeitlupentempo durch die Menschenmenge im Wartebereich der Blutabnahme, dann durch die Menschenmenge im Wartebereich der Anmeldung, dann durchs Foyer, schaffe es sogar, mir zwischendurch den Mantel anzuziehen, gehe zum Ausgang, bin draußen, entdecke Felix in einiger Entfernung und steuere langsam auf ihn zu. Wir gehen zusammen los zum Parkhaus. Ungefähr zehn Schritte, dann taucht eine Sitzbank in meinem Blickfeld auf und mein Kreislauf schreit begeistert: Jetzt!
Ich schaffe es noch bis zur Bank, als ich zusammenklappe. Diesmal auch weniger spektakulär als sonst – ich bleibe sogar bei Bewusstsein. Nach ein paar Minuten bin ich wieder handlungsfähig und wir gehen weiter zum Auto.
Wir fahren los. Stopp bei der nächstbesten Tankstelle. Tanken. Felix bringt mir – wie schon vor einiger Zeit für diesen Tag versprochen – vegane Schokolade mit. Hatte ich voll vergessen! Ich bin voll gerührt. Mampf und glücklichsei.

Alles überstanden, alles wird gut. Dann fahren wir weiter und gehen beim Action rein, binge-shopping! Dann weiter. Plan ist: Seine Gameboys aus dem Proberaum holen, damit wir gleich zu Hause zusammen weiter Musik machen können. Zusammen Musikmachen gestaltet sich nämlich schwer, wenn man rund 300 Kilometer voneinander entfernt wohnt. Da muss man jede Gelegenheit nutzen. Aber: Schlüssel vergessen, also müssen die beiden Gameboys reichen, die ich mitgebracht habe. Wir fahren also vom Action direkt zu Felix nach Hause; dort nehmen wir den Küchentisch komplett mit Musikkram in Beschlag und wir arbeiten weiter an dem Stück, das wir vor ein paar Wochen angefangen haben. Ein Gameboy-Duett sozusagen. Weil ich erst seit wenigen Wochen Gameboy spielen kann, brauche ich noch reichlich Hilfe bei dem mir zugedachten Part. Und ja, mit einem versierten Pro mit zwei Jahrzehnten mehr Instrumenterfahrung als ich sie habe Musik zu machen kann bisweilen echt frustrierend sein. Für beide Seiten. Hab da schon einige Lektionen gelernt. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Das wird cool, ich weiß es! Spaß macht es mir allemal und wenn ich es richtig interpretiere, ist das bei Felix auch der Fall. Heute kommen wir jedenfalls ein gutes Stück weiter mit der Ver-8-bittung der Gesangsmelodie des Songs, an dem wir gerade arbeiten. Für mich in rasend schneller Geschwindigkeit einprogrammiert, für Felix wahrscheinlich in extremer Slow-Motion. In Sachen Gameboy brauche ich momentan einfach noch ungleich länger. Für alles.
Nachmittags räumen wir alles wieder zusammen und gehen ins Café. Ich bekomme was zu essen und heiße Schokolade. Wir verbringen den Nachmittag so wie immer, wenn wir zusammen im Café sind, mit Gesprächen und Heißgetränken, die später von Kaltgetränken abgelöst werden, je weiter der Tag voranschreitet.

Abends bringt mich Felix zurück zu meinem Auto auf dem Messplatz. Ich drücke ihn zum Abschied nochmal kurz viel zu lange. Dann bin ich im Auto alleine und kann den schönen Tag Revue passieren lassen.
Ich bin immer noch total aufgewühlt und neben der Spur, es ist heute soviel passiert. Es lässt sich ferner nicht verleugnen, dass ich seit vier Uhr morgens wach bin, also schon wieder seit 14 Stunden. Was mache ich denn heute noch? Schlafen wäre gut. Aber mir ist überhaupt nicht danach. Normalerweise bin ich gerne zurückgezogen allein im Auto, auch wenn es so kühl ist wie jetzt gerade; dann kann ich mich schön einkuscheln und habe meine Ruhe vor dem Rest der Welt. Aber jetzt gerade merke ich, dass das gar nicht so unbedingt das ist, was mir gut tut. Ich hätte gerne a) eine warme Umgebungstemperatur, b) Gesellschaft, c) soziale Interaktion. Ich überlege, in die Innenstadt zum Chaostreff zu gehen, der heute stattfinden müsste. Aber ich fühle mich in meinem derzeitigen Zustand absolut nicht in der Verfassung, fremde Leute kennenzulernen. Ich hätte lieber nochmal jemanden um mich herum, den ich kenne und mag. In dessen Gegenwart ich guten Gewissens auch mal verpeilt sein kann. Denn so fühle ich mich heute Abend und schon den ganzen Tag: verpeilt.
„Darf ich dir völlig überdreht beim Zocken zuschauen und dann später total übermüdet auf dem Sofa einschlafen?“, frage ich Heiko per WhatsApp. Er sagt, er ist gerade bei Rewe, und was er mir Veganes zu essen kaufen soll. Bester fellow Fanboy!
Ich wechsle mit dem Auto vom Mess- zum Marienplatz, weil ich dann weniger zu laufen habe, und um 21 Uhr schlage ich bei Heiko auf. Er hat mir Obst und vegane Schokolade besorgt. Die zweite Schokolade, die ich heute geschenkt bekomme! Ich fühle mich verhätschelt und bemuttert. Wir machen es uns auf der Couch bequem und unterhalten uns so lange, bis es wirklich an der Zeit ist, schlafen zu gehen. Ich bekomme eine ausgeklappte Couch mit viel Platz und Großkatzenbettwäsche und dann unterhalten wir uns noch weiter zwischen Bett und Couch, bis es wirklich an der Zeit ist, schlafen zu gehen. Halb zwei. Es war ein langer Tag. Ein langer, aufregender, wirklich schöner Tag. Der erste Tag von einem neuen Lebensabschnitt.
Ich möchte von Herzen noch einmal ein großes Dankeschön an meine Freunde richten, die sich an diesem Tag so liebevoll und geduldig um mich gekümmert haben und für mich da waren; sowohl vor Ort als auch aus der Ferne! Janina, David, Heiko und Felix – ihr seid echt die allerbesten und ich liebe euch dafür, dass ihr mich so unterstützt und dass ihr in dieser aufregenden Zeit des Umbruchs für mich da seid!