Road Trip nach Schweden, Part 1
Noch 11 Tage
Ich bin wieder unterwegs. On the road wie Dean Moriarty, nach dem ich mich sogar benannt habe. Diesmal nach Schweden.
Für einige Tage war ich auf unserem Selbsversorgungshof zu Besuch und half mit, ein paar Dinge auf Vordermann zu bringen und für die kommende Gartensaison vorzubereiten. Außerdem klemmte ich mich hinter die Renovierung unseres Vorratsraumes, der seit dem Kauf des Hauses noch keine nennenswerten Verschönerungen erfahren durfte. Die hier investierte Zeit war gut und wichtig, aber nach knapp drei Wochen zeichnete sich ab, dass es für mich an der Zeit war, erneut das Auto zu satteln und weiterzuziehen.
Bloß wusste ich diesmal absolut nicht, wohin. Zurück in meine neue Heimat, nach Darmstadt? Würde mich dort überhaupt jemand vermissen? Oder die warme Jahreszeit bestmöglichst ausnutzen und reisen? Das Motoröl in meinen Venen fing bei dem Gedanken an zu kochen. Ich wollte wieder unterwegs sein. Irgendwohin. Ein Blick auf die Deutschlandkarte langweilte mich. Im Osten wollte ich auf gar keinen Fall bleiben. Südhessen erstmal auch nicht. NRW sowieso nicht, da habe ich jahrelang gewohnt. In München war ich erst letztes Jahr. Hamburg fällt auch weg, da habe ich auch schon einige Jahre gelebt. Niedersachsen ist zwar schön, habe ich jedoch auch bereits auf einem meiner zahlreichen Road Trips abgegrast. BaWü und Rheinland-Pfalz weiß nicht. Erstmal nicht, fühlt sich gerade nicht richtig an. Tja. Es bleibt keine Gegend in Deutschland mehr übrig, in der ich überhaupt noch gar nicht gewesen bin. Keine Gegend oder Stadt, bei der ich darauf brenne, sie endlich kennenzulernen. I‘ve been everywhere, man. Dennoch muss ich dringend vom Hof weg, besser früher als später, besser heute als morgen, besser jetzt als nie. Aber wohin? Ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht, wo ich bleiben soll. Nirgendwo wartet irgendjemand auf mich. Und ich habe auch das Gefühl – nirgendwo freut sich jemand auf mich. Ich bin allein. Auf mich gestellt.
Zum etwa tausendsten Mal in den vergangenen Monaten spukt mir dieser eine Gedanke durch den Kopf, dieser eine große Wunsch, der mich seit ungefähr zwei Jahren gepackt hält: Schweden. Stockholm. Ich will dahin. Aber wie soll das gehen? Die Spritpreise sind seit Beginn des Jahres explodiert; mein Auto wird auch nicht jünger; und ich schon gar nicht; Geld habe ich dafür auch keines gespart, denn Schweden ist teurer als Deutschland; von den rund 1.500 Kilometern Anfahrt ganz zu schweigen; dann ist da auch noch Corona; und die größte Hürde ist doch: ich habe Angst, allein im Ausland Auto zu fahren. Habe ich nämlich so noch nie gemacht. Ja, lustig, oder? Keine Ahnung, in wie vielen Ländern ich inzwischen gewesen bin und wie viele hunderttausende Asphaltkilometer ich hinter mir habe. Aber selbst gefahren bin ich nie. War immer nur Beifahrer beim Autofahren, oder Fahrgast in Zug Bus Bahn, oder Fluggast im Flugzeug, oder Fahrradfahrer, oder Fuß. Aber selbst hinterm Steuer gesessen habe ich erst einmal im Ausland, nämlich als ich mal kurz von Flensburg nach Dänemark rüberfuhr, um in einem Supermarkt Lakritztee für David zu kaufen.
Ich verliere mich darin, stundenlang das Internet zu durchforsten und über Bandenkriminalität in Stockholm zu lesen. Ich mache Screenshots von den Aufzählungen der schlimmsten Stadtteile und Vororte. Denke an meinen Bro Heiko, der mir neulich erzählt hat, dass er mal in Stockholm nicht nur ein, sondern gleich zwei ausgebrannte Autos am Straßenrand gesehen hat. Keine Ahnung, wo genau in Stockholm das war, oder ob in einem Vorort. Ich hab einen Mordsschiss. Kann ich da überhaupt im Auto schlafen? Oder werde ich dann aus Versehen bei einem Schusswechsel getroffen oder mein Auto angezündet, während ich schlafe? Werde ich ausgeraubt? Mein Auto aufgebrochen? Lädt die Ausstattung meines Autos zum Einbruch ein, wenn man das Bett sieht, oder ist das Äußere meines Autos uninteressant genug um zu wissen, dass es sich bei der uralten Karre nicht lohnt, Hand anzulegen? Ich lese bei Park4Night die Rezensionen der umliegenden Parkplätze.
„Leider wurde uns nachts ein Fahrrad vom Wohnmobil geklaut.“
„Hier wurden mir beide Nummernschilder geklaut.“
„Als ich wiederkam, waren die Fenster eingeschlagen und ein paar Sachen aus meinem Auto gestohlen worden.“
Panik steigt in mir auf. Unerheblich zu betonen, dass insgesamt auf etwa zwanzig positive Rezensionen mit guten Erfahrungen ein negatives Erlebnis kam. Ich sehe nur das Negative. In oder um Stockholm herum übernachten, das packe ich nicht. Niemals. Angst.
Zum gefühlt tausendsten Mal öffne ich bei Google Maps die Karte von Stockholm und schaue mir sehnsüchtig all die Straßen und Inseln an, die die große Stadt am Meer durchziehen. Ich will dahin. Schlimmer noch; irgendwas sagt mir seit Monaten, ich muss dahin! Ich war noch nie in Stockholm. Mein einziger Aufenthalt in Schweden ist fast 25 Jahre her – eine Abschlussfahrt in der Realschule, und ich habe es gehasst. Damals, mit 16 oder 17, wollte ich lieber zu Hause bleiben und nicht zwei Wochen am Arsch der Welt mit Kanus in der doofen Natur rumpaddeln, und schon gar nicht mit meiner Schulklasse, in der ich sowieso der Außenseiter war und nur wenige Leute mochte. Mein ekelhaftes Verhalten führte dann auch dazu, dass ich meine damalige beste Freundin Yve so erfolgreich mit meiner schlechten Laune (oder meiner puren 24/7-Anwesenheit; wir teilten uns sowohl Kanu als auch Zelt) nervte, dass wir uns danach längere Zeit aus dem Weg gingen. Jap, Leute vergraulen, weil ich anstrengend bin und sie nerve, das kann ich.
Jedenfalls, Schweden. Ich will dahin. Zum tausendsten Mal klicke ich mich zur Webseite von dem hiesigen Hackerspace in Stockholm, dem Syntax Error, und lese mir zum hunderttausendsten Mal den Text über die dort monatlich stattfindende Chiptunes-Party durch. Schaue mir die Fotos an. Das muss so cool sein, so unsagbar cool. Ich. Will. Da. Hin. Mein Blick fällt auf die Partytermine. April, Mai … und die nächste erst wieder im August?! Die Party ist nur noch einmal, am 28. Mai, und macht doch tatsächlich im Juni und Juli Sommerpause. Und in dem Moment packt es mich. Achtundzwanzigster Mai. Das ist in fünfzehn Tagen. Ich habe fünfzehn Tage Zeit, um nach Stockholm zu fahren. Und zu der Party zu gehen. Oder – was natürlich vernünftiger und angebrachter ist – ich fahre erst zu dem Partytermin im August hin, spare bis dahin Geld, jobbe vielleicht sogar ein wenig für noch ein bisschen mehr Geld, und bringe mein Auto zwischendurch erfolgreich über den TÜV, und eventuell sind bis dahin ja sogar die Spritpreise gesunken. Ja, genauso würde ich es machen … wenn ich ein vernünftiger Mensch wäre. Was bin ich stattdessen? Impulsiv und ungeduldig! Scheiß drauf, denke ich, ich mach‘s. Ich fahr. Ich weiß eh nicht, wohin sonst. Nirgendwo wartet irgendwer auf mich, und ich bin in einer Phase meines Lebens, in der ich versuche mich damit abzufinden, für den Rest der mir noch verbleibenden Zeit allein zu bleiben, und das ist enorm hart für mich, und das einzige, was ich tun kann, ist, das Beste daraus zu machen, und so unvernünftig zu sein wie irgend möglich.
Die Party ist am 28. Mai, übernächsten Samstag. In 15 Tagen. Ich bleibe noch übers Wochenende auf dem Hof, wir bauen ein fantastisches maßgefertigtes Regal, welches ich zuvor ganz allein in meinem Kopf geplant und konstruiert habe, und es wird gut und sieht auch in echt super aus, and my job here is done.
Klamotten einräumen. Wasserkanister auffüllen. Powerbanks aufladen. Lebensmittel verstauen. Bett beziehen. Und diesmal auch: ausmisten! In Darmstadt, wo ich ja seit einigen Wochen dauerhaft im Auto lebe hatte ich viel mehr Kram dabei als ich jetzt nach Schweden mitnehmen werde. Meine Gitarre und mein Gameboy müssen weichen. Auch etwas Besteck sortiere ich aus, viel Kleinkram, Deko, Postkarten, Elektrofoo. Dafür mehr langärmlige Hemden, Schweden ist kalt, auch im Sommer. Und Gaskartuschen für den Campingkocher. Ich muss mehr selber kochen, Essen ist teuer. Ich packe meine Badehose aus und wieder ein. Ich packe meine Sportsachen aus und wieder ein. Ich packe meine Jacke aus und wieder ein. Ich packe, bis ich zufrieden bin. Am Montag heißt es Abschied nehmen von meiner Hauptkomfortzone und meiner Kernfamilie. Ich muss wieder los. Und ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Noch 12 Tage bis zur Party.
Es ist schön, nach fast drei Wochen wieder on the road zu sein. Ich habe das vermisst. Ich setze mir beim Losfahren selber eine Challenge: Ich lasse meinen Auto-USB-Stick ab jetzt einmal komplett durchlaufen, ohne Songs oder Alben zu skippen. Ich werde die Musik auf dem Stick komplett durchhören, bis ich wieder bei Pumped up kicks von Foster the People angelangt bin, das gerade beim Losfahren läuft.
Es ist warm, es ist sommerlich, in der lauen Luft der schwere Duft von Raps. Ich bin unterwegs. Mein erstes Ziel ist Hildesheim. Warum? Nun ja. Es liegt auf dem Weg. Es sind zwei Stunden Fahrt bis dahin, was ein ganz guter Zeitraum ist, um Strecke zu schaffen ohne Pause zu machen. Außerdem war ich noch nie in Hildesheim, und ich nehme ja immer gern jede mir unbekannte Stadt mit, wenn es sich ergibt. Das schöne Wetter schlägt während der Fahrt ziemlich bald um, es beginnt zu regnen. Ich fahre an den nächstbesten Rastplatz ran, strecke mich gemütlich auf dem Bett aus und warte ab, bis der ärgste Regenschauer vorüber ist. Dann geht es weiter.
Nachmittags Hildesheim. Ich habe mir den Parkplatz beim Hohnsensee rausgesucht, der kostenlos ist und auf der Karte schön aussieht. Na gut, bei Regen ist das Ankommen nicht ganz so schön, aber ich finde einen guten Slot für mein Auto und sobald der Regen mal wieder eine Pause einlegt, mache ich mich auf zu einer Fußrunde um den See. Es ist eine Wohltat, am Wasser entlangzuspazieren, und in der Uferböschung entdecke ich ein Schwanennest; ein seltener Anblick.

Bei meiner Rückkehr entschließe ich mich für einen Locationwechsel. Laut Park4Night gibt es hier noch einen guten Spot an einer abgelegenen Straße. Im echten Leben ist es dort aber nicht ganz so schön wie erhofft, also laufe ich ein bisschen herum und checke aus, ob ich eventuell am Kalenberger Graben ein Plätzchen für die Nacht ausfindig machen kann. Ich werde fündig. Direkt am Ufer dieses merkwürdigen, langgestreckten Sees ist noch ein einziger Parkplatz frei. Perfekt für mich. So lässt es sich leben! Mein Schlafzimmer hat jetzt Seeblick!

Und erfreulicherweise befindet sich eine kleine Baustelle nebst Dixiklo in der selben Straße, was für ein Luxus! Da es erst früher Abend ist, schlendere ich auch um dieses Gewässer einmal ganz herum und mache auf dem Weg einen Abstecher zum Dom, in dessen Kreuzgang eine tausendjährige Rose wachsen soll. Die Rose hat aber schon Feierabend und im Dom ist Gottesdienst, also begnüge ich mich damit, die Sakralbauten lediglich von außen zu betrachten und flaniere dann wieder zum Auto, in dem ich eine angenehm ruhige Nacht verbringe. Die einzig lauten Geräusche sind vereinzelte Vogelscheißekleckse, die vom Baum auf meine Heckscheibe platschen.

Noch 11 Tage
Morgens in Hildesheim. Noch 11 Tage bis zur Chiptunesparty in Stockholm. Doch für heute ist erstmal Sightseeing angesagt. Zu Fuß erkunde ich die Innenstadt und laufe relativ planlos herum. Kirchen, Marktplatz, Fachwerkhäuser, Wasser. All die schönen Sachen, die eine Stadt so reizend machen, sind irgendwann ziemlich ausgelutscht, wenn man schon in unzähligen Städten war. Es ist immer das selbe Schema, das eine Stadt schön macht. Alle sind Schablonen. Nach nicht einmal zwei Stunden bin ich wieder zurück beim Auto und beschließe weiterzufahren. Inzwischen hat jemand das Dixiklo verriegelt; wahrscheinlich, weil ich zu oft drauf war und es jemand bemerkt hat. Ich habe die Stadt also voll ausgereizt und kann weiterziehen.

Als nächsten Stopp auf meiner Reise nach Stockholm habe ich mir die Lüneburger Heide ausgesucht. Wieder, weil ich sowieso daran vorbeikomme. Ich war zwar schon einmal dort, aber auf dem Wilseder Berg war ich noch nicht. Der steht noch auf meiner To-Do-Liste. Nach einiger Recherche bin ich sogar auf einen kostenlosen Parkplatz gestoßen, von dem aus es sich bequem zum Berg wandern lässt. Auf der Fahrt Richtung Norden regnet es wieder. Nicht doll, aber es regnet. Als ich gegen 13:30 Uhr in Döhle ankomme, habe ich den Parkplatz für mich. Dieses Phänomen ist mir ja schon bekannt: Kaum regnet es ein paar Tropfen, ziehen sich die Touris zurück und man hat den ganzen Ort für sich. Hätte den ganzen Tag die Sonne geschienen, wäre der relativ kleine Parkplatz jetzt um die Mittagszeit sicher schon rappelvoll. Froh cruise ich zum hintersten Winkel der Rasenfläche und parke neben einer mächtigen Hecke.

Perfekt. Hier habe ich meine Ruhe. Selbst wenn noch mehr Autos kommen, wird niemand an meinem Auto vorbeilatschen. Hier kann ich sogar in Ruhe kochen. Und nachts die Fenster ein wenig offen lassen, wird es doch mittlerweile ziemlich warm in meinem Gefährt. Unglaublich, dass ich noch Anfang März, kurz nach meinem Umzug nach Darmstadt, bei Minus fünf Grad ausharren musste. Ist das denn schon so weit weg? Kommt mir so vor, als wäre das erst neulich gewesen.
Ich warte den Regen ab und entscheide mich, erst morgen zum Wilseder Berg zu wandern. Laut Google Maps sind es immerhin zwei Stunden Fußweg pro Strecke. Und jetzt bei dem durchwachsenen Wetter habe ich sowieso keinen Bock. Und überhaupt bin ich doch heute schon soviel durch Hildesheim gelaufen. Da kommt es mir gerade recht, dass hier am Platz sogar Holzbänke und -tische aufgebaut sind, an denen man picknicken kann. Oder, wie ich, das Convertible auspacken und bloggen, sobald die Sonne wieder hervorkommt. Ich verbringe einen relaxten Nachmittag und Abend am Parkplatz. Sitze am Holztisch, wenn die Sonne knallt, umhüllt vom Stimmengewirr der Singvögel in den mächtigen alten Eichen am Straßenrand, wische Ameisen von meinem Laptop, bekomme Arschweh von der unbequem harten Holzbank, schnipse eine winzige umherkrabbelnde Zecke von meinem Bein, bevor sie sich festbeißen kann, beobachte das Treiben einer Kutscherin und ihrem Hund, die Touristen gegen Geld in die Natur verfrachtet, wärme mir nachmittags eine Packung vegane Maultaschen auf, bekomme zwischendurch immer mal wieder die eine oder andere Chatnachricht von allen Mitgliedern meiner chosen family (außer Canela; sie gibt sich aber auch bei Videochats eher gleichgültig) und freue mich darüber, dass ich anscheinend doch von allen noch liebgehabt werde, horche in mich rein und befrage meine Gefühle, wie es ist, nach längerer Zeit mal wieder so weit oben in Deutschland zu sein, wo die Eingangstore noch mit verfilzten flechtenbewachsenen Reetdächern gedeckt sind, die wie Beatlesfrisuren aussehen, spüre die angenehm warme Sommerbrise meine jetzt schon gebräunten, mit Myriaden kleiner Sommersprossen bestreuten Oberarme entlangstreichen und lasse ansonsten unsere heilige Diskordia eine gute Lady sein. Jap, so lässt sich‘s leben.
