Road Trip nach Schweden, Part 2

Noch 10 Tage

Ich stehe immer noch auf dem Parkplatz in der Lüneburger Heide und erwache frisch und munter nach einer erholsamen Nacht. Die Vögel singen schon. Es ist Mittwoch. Noch 10 Tage bis zur Chiptunesparty in Stockholm. Werde ich tatsächlich dort sein? Ich esse Haferflocken und rasiere mir die Beine.

Währenddessen frage ich mich, ob sich jetzt wohl in der Pension auf der anderen Straßenseite jemand darüber empört, während des Urlaubs mit meinem Anblick konfrontiert zu werden. Man hätte ja schließlich teures Geld für veheidekrautete Weiten bezahlt und nicht dafür, einem verlausten Vagabunden beim Rasieren zusehen zu müssen, wenn man aus dem Fenster schaut. Aber niemand kommt zu mir, um sich zu beschweren. Überhaupt werde ich angenehmerweise einfach in Ruhe gelassen, obwohl ich hier genächtigt habe. Allerdings verbietet das Verbotsschild am Parkplatzeingang auch nur explizit die Übernachtung für Wohnmobile und Lkw. Und ich habe ja nur einen unscheinbaren Pkw. Stealth camping nennt sich das, habe ich mal gelernt.

Gemütlich mache ich mich fertig und packe dann Sachen für einen Wandertrip zum Wilseder Berg. Diesmal will ich echt mal an alles denken! Volle Wasserflasche. Regenjacke. Schirm. Powerbank. Kabel für Powerbank. Maske. Alles in den kleinen Quechua-Rucksack gestopft und los geht‘s. Wohlgemut und leichtfüßig wandere ich in die sonnenbeschienene Landschaft hinein. Das einzig laute Geräusch ist mein Handy, dass wie jeden Morgen einmal Bing macht und mich an mein angestrebtes Wunschgewicht erinnert und daran, deswegen heute weniger zu essen (was aber nie funktioniert). Jeden Morgen um neun. Ich bin gerade einmal zehn Minuten gelaufen und sinniere darüber nach, welche tägliche Erinnerung als nächstes die verschlafene Morgenruhe stören wird. Verdammt. Die Testo-Erinnerung in einer Stunde. Ich habe vergessen, heute Morgen vorzeitig mein Testo aufzutragen. Und eingepackt habe ich es auch nicht. Fuck fuck fuck. Kurz überlegen – zurückgehen oder es später nachholen? Da ich keine Lust habe umzudrehen, nehme ich mir vor, diese Wanderung nur auf höchstens zwei Stunden zu begrenzen und mich dann später nachträglich einzucremen.

Doch jetzt laufe ich erstmal auf einer hübsch restaurierten Kopfsteinpflasterstraße durch die Heide. Das Wasteland. Ich versuche mich an Zeilen aus „The Wasteland“ von TS Eliot zu erinnern.

April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.

TS Eliot, „The Wasteland“

Aber irgendwie drängt sich mir vielmehr der Vergleich zu dem Wasteland aus den Fallout-Computerspielen auf. Ja, das trifft es ziemlich genau. Hier sieht es genauso aus wie im Ödland von New Vegas nach dem Atomkrieg 2077. Irgendwo müssen hier Vaults unter der Erde sein. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich von Blähfliegen angegriffen und wenn ich Pech habe, werde ich einen Ghul am Horizont entdecken, der mit etwas Glück noch ein paar Kronenkorken und steinhartes Falloubst in der zerfetzten Hosentasche hat. Laut kichere ich irre vor mich hin. Was okay ist, da ich in dieser Einöde gänzlich alleine bin. Zum Glück weiß niemand, wie ich bin, wenn ich alleine bin.

Ich sehe zitronengelbe Wolken von Besenginster sich um einen Baum bauschen und freue mich. Mein Lieblingsgesträuch! Kein Wunder, dass der hier wächst, hier ist es nämlich echt sandig. Der ausgetretene Pfad mutet immer mehr wie eine Düne an; am Wegesrand sprießt hartes Gras aus dem kargen Boden. Es ist erst früher Vormittag, aber der Wind weht mich sachte an wie ein lauwarmer Fön. Es wird immer wärmer. Sandkörner finden den Weg in meine kurzen Sneakersocken und scheuern an den Fersen. Ich fummele ein paar Mal an meinen Schuhen und Socken herum, bis es bequemer ist, und laufe weiter. Immer weiter durch die grenzenlos weite Einöde. Ich krame in meinem Gedächtnis, woran mich das hier erinnert. Die Antwort überrascht mich: Norwegen! Seltsam, ich hätte eher gedacht, dass mir der Jakobsweg in Spanien als erstes in den Sinn kommt, aber an den denke ich erst als zweites – die lange Strecke ohne absehbares Ende, die heiße Luft so früh morgens, die trockene Landschaft. Aber nein, bei dem Versuch, die jetzige Umgebung mit etwas Bekanntem zu vergleichen, war Norwegen offenbar der Situation am ähnlichsten. Ich denke an meinen Wandertrip in Norwegen zurück, Sommer 2007, und an das Gefühl von damals: dass es immer so weitergeht und die Natur nie aufhört; egal wie weit und wie lange ich laufe. Dieses Gefühl, fast schon der Hilflosigkeit, dass ich jetzt gerade in einem dichten oder lichten Wald mit Heidekraut bin, ja, schön und gut, aber der hört ja in absehbarer Zeit auch wieder auf, und gleich darauf die Erkenntnis: nein, tut er nicht, denn das ganze Land ist so, und egal in welche Richtung ich gehe, da wird dieses Urwüchsige sein und dieser Wald wird sich niemals lichten, sodass man denkt: Gott sei Dank, ich bin da. In Norwegen kommst du niemals an. Du läufst immer nur und kommst niemals an. Von Norwegen schwenken meine Gedanken weiter zum nächsten Land. Schweden. Ist das hier ein Vorgeschmack auf Schweden? Bald bin ich in Schweden. In nur wenigen Tagen. Das fühlt sich so unwirklich an. Fällt mir schwer, das wirklich zu glauben. Und wie immer, wenn ich mir vornehme, irgendwo hinzufahren, maßregele ich meine Vorfreude schon im Ansatz mit der stillen Mahnung: Freu dich nicht zu früh, Dude. Noch bist du nicht da. Vielleicht wird das ja auch alles gar nichts. Gehe nicht zu 100% davon aus, dass du auch wirklich da landest, wo du jetzt hinwillst. Oft genug bist du nur am Schnacken und tönst großspurig rum, was du alles in nächster Zeit vorhast, und dann ändert sich doch wieder alles von einem Tag auf den anderen und es wird nichts daraus. Also halt besser erstmal die Klappe, bevor du es herumerzählst. Und wenn du wem erzählst, wo du hinwillst, dann immer mit dem Zusatz „… wenn das denn klappt … wenn ich denn überhaupt da ankomme.“

Ich laufe weiter durchs Wasteland. Es wird immer wärmer. Die Silhouetten windschiefer Schafställe heben sich von dem geraden Horizont ab. Manchmal ragen abgestorbene Baumstämme wie faulige Zahnstumpen in den Himmel. Auf dem Boden ausgeblichenes Holz; vertrocknete weiße rindenlose Äste wie Knochen, wie Skelette in der Wüste. Wieder kichere ich irre. Veganer Skelettersatz!

Ich laufe weiter. Überlege, ob ich mich Snuffkin nennen soll. Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Es wäre schön, Snuffkin genannt zu werden. Aber das kann ich niemandem zumuten.

Anderthalb Stunden nach Aufbruch erreiche ich eine Felsformation, die den Namen Hannibals Grab trägt. Träge liegen die warmen Felsblöcke in der Sonne. Mein Geist verknüpft wieder fleißig die Gegenwart mit Altbekanntem und informiert mich nüchtern: Das sieht aus wie im Peak District in England! Stimmt, Hirn, da haste Recht, antworte ich. Sanfte Hügel, sandige Pfade, schroffe Felslandschaft und viel, viel Heidekraut – eindeutig Peak District, von mir einst zur schönsten Landschaft gekürt, die ich jemals mit eigenen Augen gesehen habe, in meiner geliebten Ex-Heimat, nur eine Dreiviertelzugstunde von Manchester entfernt. Ich denke wehmütig daran zurück, wie ich einmal durch Glossop gewandert bin, nur drei Paranüsse in der Hosentasche hatte und dann fast in ein schweres Gewitter geriet, aber dann gerade noch rechtzeitig den Zug zurück nach Manchester erwischte. Ein wenig nervt es mich manchmal, dass mein Hirn so tickt! Anstatt gänzlich im Hier und Jetzt zu sein, den Moment zu genießen und alles wahrzunehmen und nur begeistert zu schreien: „Boah, guck mal, voll schön!“ … vergleicht es stattdessen die ganze Zeit und sagt: „Hier sieht‘s aus wie da und da. Und das da, das könnte auch da und da sein. Da war das doch auch so, weißt du noch?“ Also mal sehen, wann ich das nächste Mal irgendwo bin und die dortige Umgebung dann in meinem Kopf mit der Lüneburger Heide verglichen wird.

An Hannibals Grab gabelt sich der Weg und ich muss eine Entscheidung treffen. Nach rechts zurück zum Auto und viel zu spät mein Testo auftragen? Oder nach links abknicken und weiter zu meinem eigentlichen Ziel des Tages, dem Wilseder Berg, und somit noch ein paar Stunden länger durch die brütende Hitze laufen? Ich war schonmal fast auf dem Wilseder Berg, bin dann aber doch nicht raufgewandert. War mir zu weit weg oder was weiß ich. Seitdem steht er auf meiner Sehenswürdigkeiten-in-Deutschland-to-do-Liste (ich liebe Listen). Bis Wilsede sind es nur zweieinhalb Kilometer von hier aus. Und dann mal sehen. Dann kommt irgendwann dieser Berg. Ich überlege. Werde ich mich im Nachhinein ärgern, dass ich kurz vor einem Bulletpoint meiner Sightseeingliste umgekehrt bin, oder werde ich mich im Nachhinein mehr darüber ärgern, mein Testo am heutigen Tag nicht x, sondern y Stunden später benutzt zu haben? Das muss mein Körper vertragen, beschließe ich. Testo gibt‘s später zur Belohnung oder im schlimmsten Fall wieder morgen. Ich biege nach links ab. Der Berg ruft.

Auf dem Weg nach Wilsede kommen mir Zweifel: Ist es wirklich so cool, jetzt auf diesen Berg zu wandern? Lohnt sich das? Ich schaue kurz nach, wie hoch der Wilseder Berg eigentlich ist. 169 Meter. Tihihi. Der Berg, auf dem sich mein Hof befindet, ist ja schon mehr als 300 Meter über Normalnull. Und jetzt latsche ich seit Stunden diese verdammt lange Strecke mit Sand in den Sneakersocken für einen lachhaft flachen Hügel. Ich tu‘s trotzdem. Natürlich tu ich‘s trotzdem. Obwohl ich gerade nicht mehr so viel Lust auf Laufen habe und die ganze Strecke ja auch irgendwie noch zurückgehen muss. Trotzdem: weiter.

Wilsede City ist mir zu crowded. Und touristy. Cafés Restaurants Pensionen Raststätten batteln sich um Gäste, Menschen grüßen mich für meinen Geschmack zu freundlich (ich mag ungern von Fremden auf der Straße gegrüßt werden), von anderen Wanderwegen strömen weitere Leute mit Rucksäcken hinzu. Auf einer eingezäunten Wiese stehen ein paar unförmige schmutzige Wollhaufen herum: Heidschnucken.

Meine Füße schmerzen. Ich laufe weiter. Wilseder Berg: 1,9 Kilometer.

Endlich hebt sich der Wanderweg sanft an; es geht bergauf. Wurde ja auch Zeit. Und dann bin ich da, auf dem Berg. Naja. Man kann weit schauen und die vereinzelt bebäumte Landschaft breitet sich vor einem aus. Dazu die Flächen mit Heidekraut, die um diese Jahreszeit aussehen wie grobe graubraune Decken, die auf die Hügel gelegt wurden. Alles in helles Mittagsonnenlicht getaucht. Warmer Wind, Klangteppich aus Vogelgezwitscher, durchschnitten vom Geplapper der Wandernden, die mit ihren Thermosflaschen alle Bänke in Beschlag genommen haben, die Nordic-Walking-Stöcke neben sich angelehnt oder die Fahrräder am einfachen Holzgeländer abgestellt, das den Gipfel umzäunt, es riecht nach sandig-krautiger Weite und Wald, aufgewärmt vom bald beginnenden Frühsommer, meine geschundenen Füße wollen raus aus den engen Schuhen, immer noch Sand in den Sneakersocken, der ausgetrocknete Hals freut sich über einen großzügigen Schluck Wasser, und meine Güte kann man von hier ja doch ziemlich weit gucken, beeindruckend weit und groß ist die Heide!

Ich ruhe mich kurz auf einer Bank aus, dann mache ich mich auf den beschwerlichen Rückweg. Habe absolut keine Lust mehr zu laufen. Also zurück durchs wuselige Wilsede, an Hannibals Grab vorbei, und dann auf der gepflasterten Straße geblieben, um straight zu meinem Parkplatz zurückzukehren; wenn ich mich ranhalte, in anderthalb Stunden. Ich ziehe mein Handy hervor und schicke Janina – meiner besten Freundin und gleichzeitig dasjenige Mitglied meiner chosen family, das ich am längsten kenne (15 Jahre; wir sind wie ein altes Ehepaar und es stört sie nicht, dass ich beim Kakaotrinken schlürfe) – eine Sprachnachricht mit einem Update zu meiner Zeitplanung: am Nachmittag werde ich in Kiel sein. Bei ihr. Sie antwortet: Sie freut sich auf mich! Es gibt Kuchen!

Der Rückweg zieht sich lange hin, ich werde immer erschöpfter, und trinke meine Wasserflasche leer. Fantasiere von gutaussehenden Männern, die mit Fahrrädern neben mir anhalten und fragen, ob ich auf dem Gepäckträger mitfahren will. Erinnert mich an Holland. Da ist es usus, als Fußgänger*in bei Bedarf random vorbeifahrende Leute ranzuwinken, auf deren Gepäckträger aufzusteigen und ein Stück mitzufahren. Aber hier weit und breit niemand zu sehen. Auf einen Schlag bin ich wieder allein unterwegs; die Wandermasse akkumuliert sich offenbar in und um Wilsede.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt der Ortseingang von Döhlen in Sicht, und von dort ist es nur ein Katzenschiss bis zu meinem Auto, das inzwischen in der prallen Sonne steht, umgeben von zahlreichen anderen Autos. Richtig was los hier. Gestern stand ich hier noch mehr oder weniger allein. Erste Maßnahme: Testo! Es ist dreizehn Uhr, drei Stunden zu spät. Aber besser spät als nie, das gilt auch und gerade für Testo! Dann muss ich dringend eine Kleinigkeit essen. Gefüllte Weinblätter aus der Büchse kommen mir da gerade recht. Dabei alle Türen vom Auto aufreißen und damit den enormen Hitzestau verscheuchen, der drei Gaskartuschen in meinem Gepäck zuliebe, die stets bei unter 65°C gelagert werden sollten. Als das alles erledigt ist, bereite ich alles für die Weiterfahrt vor und es geht Richtung Kiel, das Lenkrad ein wenig klebrig von meinen ungewaschenen Testogelhänden. Der erste Song, der heute auf meinem Auto-USB-Stick anläuft, ist passenderweise „The weather is fine“ von Tocotronic. Finde es sehr passend, dass gerade das Tocotronic-Album läuft, als ich durch Hamburg durchfahre. Ich habe nur Songs aus den Hamburg Years in meinem Toco-Ordner.

Pure and empty sky has given me the time
To find some objects
That oftentime reality obscures, obscures
With these many things feelings they will bring
Silence, solace, peaceful
Among the field of green, of green

Tocotronic, „The weather is fine“

Nach Hamburg habe ich die Wahl: A7 oder A21. Warum auch immer entscheide ich mich wider besseres Wissens für die A21. Nicht gut. Ich komme schlecht damit klar, diese Strecke zu fahren. Zu viele schlechte Erinnerungen. Ich hasse es hier. All diese Ortsnamen aus längst vergangenen Zeiten auf den Schildern zu lesen, katapultiert mich in eine unliebsame Ära meines Lebens zurück und ich fühle mich unwohl. Ich mag es hier nicht. Es ist schlimm für meinen Kopf, dass es diese Gegend plötzlich wieder gibt. Totaler Mindfuck!

Ich versuche schöne Erinnerungen zu finden, die ich mit dieser Region verbinde. Das Einzige, das mir einfällt, ist, dass ich auf dieser Straße hier zum ersten Mal „Where is my mind“ gehört habe, und zwar die Coverversion von Placebo! Noch bevor ich das Original von den Pixies kannte! Und die Schönheit dieses Songs hat mich damals so mit voller Wucht getroffen, dass ich verdammt nochmal angefangen habe zu heulen, beim Autofahren, aber es musste sein, sonst hätte ich die Schönheit dieses Songs nicht ausgehalten, zu intensiv war es.

Jetzt gerade versuche ich meinen Geist zu überzeugen, dass ich in der Gegenwart bin und die schlimmen Zeiten vorbei sind, die ich hier erlebt habe, obwohl ich mich wieder in der Umgebung von damals befinde. Ich konzentriere mich auf meinen Auto-USB-Stick, der inzwischen endlich bei den Bondage-Fairies-Ordnern angekommen ist. Seit dem Start meines Road Trips habe ich mir ja vorgenommen, den Stick ohne zu skippen einmal komplett durchlaufen zu lassen, was ich sonst nie mache, und bis jetzt habe ich mich auch eisern dran gehalten. Sonst skippe ich eigentlich immer so gut wie alles, bis ich wieder bei Bondage Fairies bin. Es gibt Fahrten, bei denen ich eine Stunde lang immer und immer wieder immer nur „Twenty Twelve“ höre. Ich überschlage kurz im Kopf die Route, die ich noch bis Schweden fahren muss, rund 1.000 Kilometer. Dann werde ich mit meiner Nicht-skippen-Challenge brechen müssen, weil ich Bondage Fairies hören will, wenn ich nach Schweden reinfahre! Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass es damals, als ich diese Strecke hier auf der A21 täglich gefahren bin, die Songs noch gar nicht gab, die ich jetzt gerade höre. Sondern erst 2005. 2005, als ich 23 war und ich hier meine Lebenszeit und vermeintlich besten jungen Jahre (oder die, die es hätten sein können) verschwendet habe, fing in einem anderen Teil der Welt ein Dude, der nur zwei Jahre älter ist als ich, damit an allen Konventionen zum Trotz die allerabgefahrenste Musik zu machen, und nutzte jene Jahre damit um so vieles sinnvoller als ich damals, und das Ergebnis höre ich jetzt gerade mit meinem Auto-USB-Stick, so viele Jahre später, die Früchte seiner harten Arbeit, während ich rein gar nichts vorzuweisen habe, keine Songs, keine Karriere, keine erreichten Ziele, keine Erfolge. Nur verlorene Zeit.

Mein erster Halt in Kiel ist das Mcfit. Bin ja Mitglied, seit ich in Darmstadt lebe, um dort Sport zu machen und regelmäßig duschen zu können. Praktischerweise kann ich mit meiner Mitgliedschaft alle Mcfit-Studios in Deutschland benutzen. Ich will Janina nicht als der verlauste und versiffte Punk, der ich bin, unter die Augen treten. Beziehungsweise um den Hals fallen. Also packe ich eine kleine Tasche mit Duschsachen, checke mich im Fitnessstudio ein, suche die Umkleidekabine und gehe ersteinmal ausgiebig duschen nach der langen staubigen Wanderung in der Lüneburger Heide und der langen verklebten Autofahrt über die A7 und die A21. Kleidung wechseln, Haare stylen und föhnen. Dann brettere ich los zur Pferdekoppel, auf der Janina gerade ihre Ponys versorgt. Wir haben uns seit einem Dreivierteljahr nicht gesehen. Janina kramt in einer großen Plastikkiste mit Flaschen und sucht mir was Alkoholfreies zu trinken. Sie wird fündig und reicht mir stolz eine staubige Flasche alkoholfreies Erdinger mit Grapefruitgeschmack, das auch noch fast gar nicht abgelaufen ist. Wir sitzen und trinken und rennen rum und trinken und reden und trinken und dann mache ich mich nützlich und stopfe Heu in ein Futternetz. Ein paar jüngere Mädchen sind auch da und helfen. Außerdem eine Schar Hunde, allen voran mein alter Kumpel Feivel, der schwarzweiße Wirbelwind, der immer mein Bein rammelt, wenn ich da bin. Janina erzählt mir später, als wir alleine sind, dass eines der Mädels mit großen Augen beobachtete, wie ich mein Auto abschloss, und dann Janina fragte: „Muss man bei dem Auto da einen Schlüssel in die Tür reinstecken, um abzuschließen??“

Als die Stallarbeit getan ist und die Mädchen alle wieder weg sind, fahren wir zu Janina und ihrer Familie nach Hause, wo ihr Mann schon Pizza für uns vorbereitet hat. Selbstgemachte Pizza aus dem Pizzaofen, leider geil. Auch wenn ich sehr schräg und fassungslos angesehen werde, als ich nach Ananas frage.

Wir verbringen einen gemütlichen Abend im Wintergarten; ich bekomme eine Tafel vegane Schokolade ganz für mich allein und bin glücklich. Während meine Stinkwäsche der letzten drei Tage in der Waschmaschine sauberschleudert, blockiere ich die einzige Steckdose im Raum zum Aufladen all meiner Elektrosachen und fülle in der Küche auch noch schnell zwei meiner Wasserkanister auf. Wenn ich wo zu Besuch bin, breite ich mich immer sehr schnell aus mit meinem Krempel. Gemeinhin wurde das zum Glück bis jetzt immer toleriert. Bin aber jetzt gerade voll stolz auf mich, dass ich mir organisiert habe, diesmal schon vor dem Besuch nicht bei Janina zu Hause, sondern im Fitti geduscht zu haben! Normalerweise erschnorre ich mir nämlich immer eine Dusche oder drei, wenn ich on the road bin und dann Freunde besuche. Ich dusche halt so gerne bei anderen Leuten!

Janina packt Aquarellfarben und -papier aus.

„Malst du mir einen Penisstrauß in einer silbernen Vase?“

„Sollen die Eier oben oder unten sein?“, frage ich.

Ich fange an zu malen, und wie gehabt leckt mir Feivel währenddessen zunächst sorgfältig das Bein ab, um es anschließend mit großer Ausdauer durchzurammeln.

Bald ist es dunkel im Wintergarten und Zeit zum Schlafen. Ich verabschiede mich und verkrieche mich in mein gemütliches Auto, wo ich noch ungefähr eine Stunde lang ein schönes und sehr gutes weil längst überfälliges Chatgespräch führe mit jemandem, der mir sehr wichtig ist, und wir uns mit einigen Dingen aussprechen. Ein schöner Abschluss eines schönen Tages, der mir im Großen und Ganzen sehr gutgetan hat.

Ich bin so geflasht von dem Tag und dem Abend, das mir der Kopf schwirrt und ich nicht einschlafen kann. Um halb vier schaue ich das letzte Mal auf die Uhr.

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