Road Trip nach Schweden, Part 8 (letzter Teil)

Die Party

Noch 1 Tag

Ich wache frühmorgens auf dem Parkplatz am Femörefortet auf. Nachts haben sich noch ein paar Wohnmobile dazugesellt, sodass ich nicht ganz einsam hier in der Natur gestanden habe. Es ist Freitag. Nur noch 1 Tag bis zur Chiptunesparty in Stockholm. Nur noch 120 Kilometer Strecke.

Ich esse eine Schüssel Müsli und stelle fest, dass heute draußen etwas anders ist als die letzten Tage: Sonne! Der Himmel ist fast unbewölkt und die Sonne scheint! Ich lege direkt meine kleine Photovoltaikanlage auf die Motorhaube und schließe mein Handy an. Während ich das Auto aufräume, lädt mein Handy komplett auf. Die ungewöhnliche Intensität der Sonneneinstrahlung muss ich unbedingt nutzen, also schließe ich sofort die komplett leere Powerbank an, sobald das Handy voll aufgeladen ist. Es wird Stunden dauern, bis die Sonne die Powerbank aufgeladen hat; fraglich, ob sie es überhaupt an einem einzigen Tag schafft. Aber natürlich besser als gar nichts. Und ich habe es nicht sehr eilig, heute unbedingt so früh in Stockholm anzukommen. Lieber so wenig wie möglich dort parken. Parken in Stockholm ist zu meinem großen Schreckgespenst geworden. Ich hoffe einfach inständig, dass alles glattläuft und ich einen guten, sicheren Parkplatz finde, auf dem ich ein paar Tage und Nächte angstfrei stehen kann.

Als erstes peile ich einen Waldparkplatz im Nackanaturreservat in Stockholm an. Dieser ist kostenlos, jedoch ist das Parken auf lediglich sechs Stunden beschränkt. Als ich aus dem Auto aussteige und im Wald stehe, bin ich happy – ich habe es geschafft! Ich bin rechtzeitig in Stockholm angekommen! Ich schicke Felix ein Selfie von mir im Stockholmer Wald, aber er zweifelt an, dass ich wirklich in der Stadt bin, weil auf dem Foto kein Knäckebrot zu sehen ist. Ich verspreche, es nachzureichen, und mache mich erstmal auf den Weg, die nähere Umgebung zu erkunden. Es gibt eine schöne Badestelle mit Rasen und Sand und flachem Wasser. Und noch wichtiger: ein Kompostklo am Strand! Im Wald entdecke ich halb versteckt einen verträumten Tierfriedhof. Selbstgebastelte, schiefe Kreuze stehen überall zwischen den Bäumen verstreut, dazu Fotos und Schilder mit Namen der Tiere – Jesper, Knut, Sander, diverse Luckys, Homer, Seymour, Nipsi und einige andere haben hier ihre letzte Ruhe gefunden.

Es wird Zeit für mich, in die Stadt reinzufahren und einen endgültigen Parkplatz für die Nacht zu finden. Meine Wahl fällt auf den Parkplatz am Hökarängsbadet, eine weitere Badestelle an einem See. Er kostet zwar acht Euro pro Tag, aber ich buche mir dennoch ein Ticket. Besser als die fünfzehn Euro, die man noch weiter stadteinwärts blechen muss. Und auch einfach, um mal irgendwo anzukommen, wenn auch nur temporär.

Gut, die Gegend ist nicht die beste; es gibt viele Hochhäuser und Leute tragen Jogginghosen, ohne zu joggen. Ich schaue mir die Badestelle an, aber es nieselt und ist kalt. Mir gefällt der Holzsteg, der am Ufer des Sees entlangführt, mit Aussparungen für die Bäume, die schon vorher dort wuchsen. Eigentlich ist es gar nicht so übel hier. Ich hoffe auf eine ruhige Nacht und gehe zu Bett. Morgen ist der große Tag.

Heute

Sonnenlicht weckt mich. Ich schaue auf die Uhr. Es ist Samstag, 3:43 Uhr. Morgens, wohlgemerkt. Heute ist die Chiptunesparty. Und ich bin in Stockholm. Ich bin tatsächlich in Stockholm! Allerdings kommt mein Biorhythmus nicht damit klar, dass es scheinbar schon ab drei Uhr nachts taghell ist. Vor allem, weil es nachts um zwölf noch nicht mal ganz dunkel ist. Nach ein, zwei Stunden schlafe ich zum Glück wieder ein und bekomme noch ein paar Stunden Schlaf. Es wäre sonst echt hart geworden, abends zu der Party zu gehen. Ich will heute Abend fit sein. Auch hier gehe ich vormittags erstmal die Gegend auschecken. Nicht weit von mir befindet sich das Farsta Centrum, ein Einkaufszentrum hier in der Mitte des Stadtteils Farsta. Dort freue ich mich über Toiletten und Waschbecken mit heißem Wasser und Seife. Und WLAN. Ich will mir online ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr in Stockholm kaufen. Bei der Auswahl zögere ich. Nehme ich ein 72-Stunden-Ticket für 330 SEK, also 33 EUR, oder ein 7-Tage-Ticket für 430 SEK – 43 EUR? Jetzt muss ich mich entscheiden, wie lange ich überhaupt hierbleiben will. Wenn ich nur drei Tage bleibe, zahle ich weniger, aber vielleicht reichen mir drei Tage gar nicht, um sie Stadt anzusehen? Und wenn ich mich entscheide, eine ganze Woche zu bleiben? Das Ticket kostet nur zehn Euro mehr. Aber die Parkgebühren! Und was ist, wenn ich mich nach einer Woche zu Tode langweile, weil ich schon alles gesehen habe? Und dann hier festhänge, weil ich ja das teure Ticket habe, das ich ausreizen muss? Eine Woche in Stockholm wohnen, das hört sich für mich so unwirklich an. Ich bin für die Party hier, die war mein Aufhänger und meine Motivation, überhaupt mal hierherzufahren. Aber natürlich will ich auch die Metropole ansehen. Aber ich traue meiner Gefühlswelt auch zu, dass ich am Tag nach der Party aufwache und denke: So, ich habe hier gesehen, was ich sehen wollte, und irgendwie möchte ich jetzt zurückfahren.

Ich beschließe, es drauf ankommen zu lassen – eine Woche Stockholm! Klick, und das Wochenticket ist mein. Die ganze nächste Woche werde ich also hier verbringen. Dann wird es wohl mal Zeit, auch davon Gebrauch zu machen. Es ist zwar kalt und regnerisch draußen, aber trotzdem mache ich mich auf den Weg ins Stadtzentrum. Ins Herz der Stadt: Gamla Stan.

Den ganzen Mittag und Nachmittag verbringe ich damit, frierend durch den Regen zu laufen und mir alles anzusehen, was meinen Weg kreuzt. Zusammen mit den Touristenmassen wälze ich mich durch die romantischen engen Gassen der Altstadt. Souvenirshops reihen sich aneinander, überall gibt es den selben bunten Krempel zu kaufen. Den Kauf meiner obligatorischen Postkarte verschiebe ich auf einen anderen Tag. Ich bin ja noch ein paar Tage hier!, denke ich freudig, und versuche die sich direkt auf diesen Gedanken mir aufdrängende Frage – Und was machst du danach? – weit von mir wegzuschieben.

Ich finde mich weit im Norden von Gamla Stan wieder und schaue bei Google Maps, wohin ich jetzt gehen könnte. Ich sehe die kleine grüne Flagge, die ich vor vielen, vielen Monaten auf die Karte gesetzt habe: nämlich als ich Stockholm als Stadt markierte, in die ich noch reisen möchte. Google Maps hat die Markierung automatisch an diese Stelle gesetzt, wahrscheinlich die geografische Mitte des Stadtgebiets. Nur wenige Meter von mir. Da gehe ich jetzt hin, beschließe ich, genau zu dem Punkt, an dem ich jetzt seit Monaten diese Flagge bei Google Maps gesehen habe. Dann kann ich sagen: DA war ich, GENAU da! Ich gehe hin. An der Stelle ist nichts besonderes, nur ein weiteres Denkmal, und es ist nass, und es ist kalt, und ich friere, und es regnet, aber ich bin höchst zufrieden, genau hier zu stehen. Ich habe das Gefühl, ich stehe in meiner Google-Maps-Karte.

Um etwa 15 Uhr bin ich müde, durchnässt vom Regen und ziemlich durchgefroren wieder bei meinem Auto. Es parkt immer noch auf dem Parkplatz von diesem kleinen Strandbad am Stadtrand. Ich mache ein paar Stunden Pause und ruhe mich von dem vielen Rumgelaufe aus, dann parke ich das Auto um. Vorher überwinde ich mich noch, und obwohl es draußen nur 10°C sind, öffne ich die Autotür, kippe mir eine Flasche eiskaltes Wasser über den Kopf und wasche mir die Haare. Heute Abend will ich mich wohlfühlen in meiner Haut! Es ist immerhin das erste Mal in elf Jahren, dass ich abends alleine ausgehe. Als Single. Mein Leben hat sich in den letzten Monaten ziemlich stark verändert.

Abends parke ich das Auto um: Nicht weit von hier gibt es einen weiteren, kostenpflichtigen Parkplatz direkt in Farsta, in der nähe des Farsta Centrums, der jedoch nur drei Euro pro 24 Stunden kostet. Auf dem Weg dorthin höre ich laut Bondage Fairies und beim Mitsingen fällt mir zum ersten Mal auf, dass gerade eindeutig etwas mit meiner Stimme passiert. Es fühlt sich an, als wäre ich kurz vorm Stimmbruch. Ich bin jetzt seit 23 Tagen auf Testo. Sollte ich wirklich hier, in Stockholm, in den Stimmbruch kommen? Bin ich überhaupt bereit dafür? Und was passiert dann?

Der Parkplatz meiner Wahl ist ganz gut. Ich fühle mich hier ganz sicher. Ich denke mal, dass mein Auto hier in Ruhe gelassen wird. Ich mache mich frisch, ziehe mich um, und dann ist es auch schon soweit. Es ist Zeit für die Chiptunesparty. Es ist soweit.

Mit der Tunnelbana 18 fahre ich in die Stadt rein bis Slussen. Von da gehe ich zu Fuß. Es ist viertel nach neun, als ich die Location erreiche. Die Party hat um 20 Uhr angefangen und drinnen ist schon ein bisschen was los. Überall Leute, die sich miteinander unterhalten; es ist laut. Die Musik hat noch gar nicht angefangen. Überall sind Computer und Bildschirme aufgebaut, an denen man Computerspiele spielen kann. Es gibt auch einen Stapel Brettspiele. In einem Glas stehen Knicklichter bereit, von denen die Gäste auch ausgiebig Gebrauch machen. Überall glimmen die neongrünen kleinen Kreise an Handgelenken und Ohrringen. Drei Männer spielen an einem Tisch hochkonzentriert ein Fische-angeln-Spiel für Kinder. Ich fühle mich wohl zwischen diesem Klientel, es sind im Grunde die Nerds und Freaks, die ich bei so einer Party erwartet und erhofft hatte. Mein Problem ist nur: Ich kenne niemanden. Ich stehe herum und schaue mir alles an. Versuche Blickkontakt mit irgendwelchen Typen aufzunehmen, aber alle sind mit irgendwelchen anderen Leuten hier. Eine Zeitlang sitze ich einsam auf einem Sofa herum. Es ist gerade Mal zehn Uhr. Soll ich wieder gehen?? Weil ich zu gehemmt und schüchtern bin, Leute anzusprechen und Anschluss zu suchen? Wegen dieser Party bin ich doch extra 1.500 Kilometer gefahren und war zwei Wochen unterwegs! Und das alles nur, damit ich nach einer Stunde entmutigt aufgebe und wieder gehe? Und dann? Den Rest der Nacht blöd alleine im Auto liegen und mich ärgern? Nein, lieber sitze ich hier die ganze Nacht durch einsam herum und beobachte das Treiben. Zumindest ein paar Stunden möchte ich noch hierbleiben. Dass ich bis zum Ende der Party um drei Uhr nachts durchhalte, bezweifle ich zwar ganz stark, aber ich nehme mir vor, zumindest noch eine Weile hierzubleiben. Schweden trinken doch so gerne so viel, wenn es Anlass gibt, weiß ich. Ich bleibe einfach hier sitzen und warte ab, bis alle betrunken sind, beschließe ich. Und entweder werde ich dann irgendwann angesprochen oder ich traue mich, betrunkene Leute anzusprechen. Einfach geduldig sein. Mal sehen, was der Abend noch bringt.

Ich stehe vom Sofa auf und schlendere herum. Stelle mich irgendwohin und schaue Leuten beim Computerspielen zu. Stehe im Weg, Leute drängen sich an mir vorbei, es wird immer voller. Ich finde ein anderes leeres Sofa und setze mich dort hin, aber nur wenige Sekunden später kommen zwei Personen und wollen auch dort sitzen und an den beiden Computern zocken. Also stehe ich wieder auf und versuche, mich woanders hinzustellen. Ein Mann sagt etwas zu mir.

„Sorry, I don‘t speak Swedish“, lüge ich.

Er switcht sofort auf Englisch um und sagt, dass ich scheinbar überall im Weg bin und nirgendwo dazugehöre, und dass er sich auch so fühlt. Er ist zwar alleine hergekommen, war aber schon öfter hier und kennt auch ein paar Leute. Wir kommen ins Gespräch. Er fragt, woher ich komme, und ich erzähle von meinem Road Trip hierher, für genau diese Party hier. Er ist ziemlich geflasht von der Aktion. Immer mal wieder halten Leute bei uns an und begrüßen ihn. Sofort werde ich auch immer den anderen vorgestellt. Alle begrüßen mich gutgelaunt. Ein niedlicher Charakterzug der schwedischen Mentalität ist ja, dass es unbedingt allen gutgehen und Harmonie herrschen soll. Deshalb wohl die Bestrebungen, mich sofort zu integrieren. Mit ein paar Leuten machen wir bei der Schnitzeljagd mit. Man muss herumlaufen und fragen zu Computerspielen beantworten und auf einem Zettel notieren. Um Mitternacht wird dann verkündet, wer gewonnen hat. Keine Ahnung, ob ich bis dahin noch da bin, und ich kann keine einzige Frage beantworten, sondern rate immer nur alles, aber es ist lustig und macht trotzdem Spaß! Inzwischen hat auch die Musik angefangen. Die Tanzfläche, auf der vorher ein gigantischer Jengaturm aufgebaut wurde, ist jetzt freigegeben zum Tanzen und füllt sich schnell.

Der Typ, der mich seinen Freunden vorgestellt hat, und ich spielen ein überdimensionales Vier Gewinnt, dessen Regeln wir etwas abwandeln, und er gewinnt. Ich finde es sehr nett, dass er mich unter seine Fittiche genommen hat, obwohl er eine Freundin hat! Aber ich befürchte langsam, dass es so wirken könnte, als wäre ich nicht als Single hier. Bald verlaufen sich unsere Wege aber auch, hin und wieder sehen wir uns irgendwo und unterhalten uns, ansonsten stehe ich auch gerne wippend an der Tanzfläche. Eine schon ziemlich betrunkene Frau spricht mich gutgelaunt an. Wir reden über schwedische Jungs und wie schwer sie anzubaggern sind.

„Die sind sehr schüchtern. Du musst einfach hingehen und sie ansprechen!“, lallt sie mir auf Englisch ins Ohr.

Davon habe ich schon gelesen. Überhaupt habe ich mich im Vorfeld sehr viel darüber belesen, wie die Mentalität hier so ist und wie man es am besten anstellt, hier wen kennenzulernen. Das Zauberwort ist: Selbstbewusstsein! Losgehen und die Initiative ergreifen! Also gehe ich los und ergreife die Initiative. Mit Erfolg.

Um Mitternacht werden die Gewinner*innen von dem Quiz gezogen. Ich bekomme nicht mit, ob ich gewonnen habe oder nicht. Ist ja auch egal. Ich habe gerade Besseres zu tun. Danach ändert sich die Musik.

„That‘s not Chiptunes“, sage ich.

„No, that‘s Swedish 90s music. You probably don‘t know it.“

„No“, sage ich, aber irgendwie kommt mir das Lied doch bekannt vor. Dann fällt der Groschen – die spielen jetzt gerade Titelmelodien von Kinderserien aus den 90ern! Ducktales, Chip & Chap … und das nächste kenne ich auch irgendwie, das ist doch …

„I know that one! That‘s the G–“ … ähm, was heißt denn Gummibärenbande auf Englisch??

Lieder, die ich seit Jahrzehnten nicht gehört habe! Und am lustigsten ist, dass hier natürlich die schwedischen Versionen davon gespielt werden.

Zwischendurch verabschiedet sich der Mann, der mich vorhin angesprochen und in seinen Bekanntenkreis aufgenommen hat. Und die ursprüngliche Begleitung von demjenigen, den ich dadurch kennengelernt habe, und der mir seit Stunden seine komplette Aufmerksamkeit schenkt, ist auch schon längst verschwunden. Überhaupt nimmt die Anzahl der Leute zu, die gehen. Aber wir zwei bleiben. Er und ich.

Irgendwann neigt sich die Party dem Ende zu. Immer mehr Leute strömen zur Garderobe, holen ihre Jacken und gehen. Einer der Organisatoren läuft herum und beginnt, die PCs und die Monitore in Kartons zu packen. Es wird Zeit zu gehen. Festen är slut, die Party ist vorbei. Nur noch wir zwei sind da. Wir verlassen als die letzten beiden Personen die Party.

Um drei Uhr morgens stolpere ich erschöpft, übermüdet, aber glücklich, mit meinem hübschen blonden Isländer im Schlepptau nach draußen in die bereits taghelle Stadt.

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